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Die Wellen der Revolution

Eine Revolution kommt in Wellen. Jede Welle wird höher, die Abstände zwischen ihnen kürzer, die Wellen werden klüger, sie lernen aus den Fehlern der Wellen zuvor. Diese Revolution musste in den letzten 44 Jahren schmerzhaft viel dazu lernen. Von Mariams.mind





Zum Beispiel musste sie lernen, dass Reformisten nur Hardliner im Schafspelz sind, denn eine Reform ist innerhalb des brutalen Regierungsapparates der Islamischen Republik nicht möglich. Diese Revolution musste auch lernen, dass die NIAC lediglich bezahlte Regimelobbyisten sind, welche sich pro-westlich und -demokratisch geben, um die Hauptinteressen des Mullahregimes im Westen zu vertreten.

„Viele unpolitische Exil-Iraner:innen wurden zu Hobby- oder Vollzeitaktivist:innen.“

Die wichtigste Lektion aus der Welle 2019, den Aban Protesten, die es zu lernen galt, lautet: They kill us in darkness. Über Nacht hatte die Regierung die Benzinpreise verdoppelt, Tausende zog es auf die Straßen zum Protest. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Drei Tage lang hat die Islamische Republik das Internet abgestellt, die Zahl der Toten wird von unabhängigen NGOs auf 1500 Menschen geschätzt.

In der aktuellen Welle war die Revolution klüger. Ich erinnere mich an Mitte September, als die Menschen im Iran in den ersten Tagen nach Jina Mahsa Aminis Tod gefleht haben, auf allen Kanälen: Be our voice. Please be our voice. And we were. Die Diaspora hat sich dieser Aufgabe in einer vollkommen neuen Dimension angenommen. Viele unpolitische Exil-Iraner:innen wurden zu Hobby- oder Vollzeitaktivist:innen.


„Was gilt es aus dieser Welle für die Nächste zu lernen?“

Schnell mussten wir erkennen: Unsere Feinde sind überall. Neben der Islamischen Republik, ihrer (laut eigenen Angaben) viertstärksten Cyberarmee weltweit, der Spionage und realen Bedrohung im Ausland, Desinformationen und Staatspropaganda – kämpfen wir zeitgleich gegen westliche Medien mit Regimepropaganda reproduzierenden "Iran-Expert:innen" sowie international gegen Politiker:innen, die sich mit der NIAC oder der terroristischen Politsekte MEK (Thread von mariams.mind) treffen.

Ein halbes Jahr ist seit dem Mord an Mahsa vergangen. Und ich kann mich irren, aber seit ein paar Wochen sagt mein Instinkt mir, dass diese Welle so langsam ihr Ende gefunden hat. Irgendwann nach der Georgetown Konferenz (11. Februar), in der sich die Exil-Allianz vereint vorgestellt hat und der Münchener Sicherheitskonferenz (17. bis 19. Februar), auf der zum ersten Mal Vertreter:innen der Exil-Allianz statt der Islamischen Republik eingeladen waren, ging ein Stück meiner Hoffnung verloren. Somit setzt im Zuge dieser unerwünschten Ahnung bei mir der Prozess der Introspektion ein, der reflektierende Blick zurück. Und ich komme nicht umhin, mir die Frage zu stellen: Was gilt es aus dieser Welle für die Nächste zu lernen?


„Es ist mir lieber, wenn die ganze Diaspora mich hasst, aber der Iran am Ende frei ist – als das Gegenteil.“

Ich habe in letzter Zeit oft die Rückmeldung bekommen, dass ich mich mit meiner Kritik an den prominentesten Frauen der deutschen Diaspora (Ausnahme Shoura Hashemi und Natalie Amiri) zunehmend unbeliebt mache. Ich habe diesem Vorwurf stets entgegnet, dass es mir egal ist. Das ist natürlich gelogen, ich bin auch nur ein Mensch und will von allen gemocht werden, aber beliebt sein ist nicht meine höchste Priorität. Um es einmal bewusst mit einer schwarz-weiß denkenden Brille zu beschreiben: Es ist mir lieber, wenn die ganze Diaspora mich hasst, aber der Iran am Ende frei ist – als das Gegenteil.

Ich sehe nämlich in der deutschen Diaspora eine Menge Journalistinnen und politische Influencerinnen, die ihren Aktivismus fleißig für Karriere und Kontakte vorantreiben, dabei aber konsequent das WICHTIGSTE für die Iran Revolution ignorieren: Die Unterstützung (bei manchen sogar die Existenz) der Exil-Allianz, jetzt verbunden mit der vor wenigen Tagen veröffentlichten #MahsaCharter (hier mehr Infos).



„Pro-Pahlavi-Stimmen werden systematisch ausgegrenzt.“

Diese Frauen decken zusammengenommen 90% der deutschen Medienlandschaft zur Iran Revolution ab: Artikel, Podcasts, Veranstaltungen – sie sind überall. Und sie alle vereint, dass sie Reza Pahlavi als einzelne Figur ablehnen (das ist ihr gutes Recht), aus diesem Grund aber die Legitimität der gesamten Exil-Allianz entweder direkt untergraben oder dadurch sabotieren, dass diese konsequent unerwähnt bleibt. In diesen Kreisen ist eine Pro-Pahlavi-Stimme undenkbar, diese werden systematisch ausgegrenzt.

So verzerren sie allerdings das Bild für die unwissende deutsche Öffentlichkeit, denn Studien deuten darauf hin, dass Reza Pahlavi eine Unterstützung von mind. 50% der Stimmen im Iran hat (siehe gamaan.org oder die Studie vom Empirical Research and Forecasting Institute: „79.9 percent of Iranians overwhelmingly favor Crown Prince Reza Pahlavi over the current political leaders“). Wie kann man sich in allen Formaten als überparteilich/ohne politische Agenda bzw. als Schallverstärker aller Stimmen im Iran inszenieren, wenn man parallel einen Großteil der Stimmen im Iran ignoriert?


„Ich erreiche diese Menschen nicht“

Ich kritisiere das also regelmäßig: Mal mehr, meistens weniger diplomatisch, manchmal privat, meistens öffentlich und muss jetzt einfach eingestehen: Ich erreiche diese Menschen nicht. Sich gegenseitig an Plattform und Reichweite voneinander hochzuziehen, scheint für die meisten von ihnen an erster Stelle zu stehen. Dass die Iran-Revolution gelingt, also den wichtigsten nächsten Schritt vorankommt, scheint bei all den Online- und Offline-Formaten dieser Frauen nur ein nebensächliches Beiprodukt zu sein. Ihre persönliche Abneigung für Reza Pahlavi stellen sie über das Ziel der Mehrheit im und außerhalb des Irans: Regimesturz.


Die Frage bleibt offen in Raum und Zeit stehen und nur die Zukunft kennt die Antwort: Werden wir als Diaspora aus dieser Welle für die Nächste lernen? Denn die nächste Welle wird kommen, schneller und höher als die Letzte, das weiß ich mit Gewissheit. Ob wir dann in der Diaspora klüger sein werden als jetzt, das weiß ich allerdings nicht.



Mariams.mind (Twitter) hat Wirtschaftspsychologie und Grafik studiert und viele Jahre als Texterin gearbeitet. Ihr Fokus im Moment sind Social Media Projekte. Ihre Mutter hatte nach der Islamischen Revolution 1979 bis zu ihrem Tod mehr als 30 Jahre ihres Lebens jeden Tag als Journalistin und Autorin den Menschen im Iran gewidmet. Ihr Erbe setzt Mariam jetzt im Zuge der Iran Revolution fort.

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