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Shole Pakravan: „Wenn wir nicht einig sind, können sie uns alles aufzwingen“

Der Fall dieser jungen Iranerin ging um die Welt: Als 19-Jährige wurde Reyhaneh Jabbari 2007 fast vergewaltigt. Doch sie setzte sich zur Wehr und stach den Angreifer nieder. Nach einem Schauprozess wurde sie wegen vorsätzlichen Mordes zum Tod durch den Strick verurteilt. Sieben Jahre saß sie im Todestrakt und wurde nicht müde, sich für Frauenrechte und für ihre Mithäftlinge einzusetzen. Ihre Mutter, die prominente Schauspielerin Shole Pakravan, kämpfte um das Leben der Tochter – und hat den Kampf auch nach Reyhanehs Hinrichtung 2014 nicht aufgegeben.



Shole Pakravan (Foto: © USE gGmbH Mediengestaltung/ Melanie Bühnemann / Piper Verlag)

„Wie man ein Schmetterling wird“ heißt das Buch, das Shole Pakravan mit Steffi Niederzoll im Berlin Verlag veröffentlicht hat und an die Lebensgeschichte von Reyhaneh Jabbari erinnert. Das Buch flankiert den Dokumentarfilm „Sieben Winter in Teheran“ (ausgezeichnet auf der Berlinale 2023 mit dem Friedensfilmpreis sowie als bester Film der Sektion Perspektive Deutsches Kino). Im Interview mit iran-revolution.com blickt Shole Pakravan zurück auf das Leben der Tochter, den gemeinsamen Kampf gegen Todestrafen und auf die aktuelle Situation im Iran.


Das Interview fand anlässlich einer Lesung von Shole Pakravan in Köln statt, mitorganisiert von Free Human (Instagram; hier ein Porträt).


Ihre Tochter hat zum Abschied den Wunsch formuliert: „Gib mich dem Wind frei!“ Was bedeutet das?

Lass mich los und gib dich diesem Schicksal hin, auch wenn es für dich traurig sein kann, aber es wird geschehen. Lass mich gehen, damit ich reisen kann und meine Geschichte sich überall auf der Welt verbreiten wird... Denn selbst während Reyhaneh inhaftiert war, begann sie ihre Verteidigung und veröffentlichte ihre Tagebuchaufzeichnungen aus dem Gefängnis.

Sie sprach die Menschen an und erklärte, dass alles, was sie den Richtern gesagt hatte, unter dem Einfluss des Drucks der Vernehmer stand: Jetzt sage ich es der Weltbevölkerung, und wenn die Menschen auf der Welt mich für schuldig halten, sollen sie das Seil fester binden.




Wie versuchen Sie, diesen Wunsch zu erfüllen und an ihre Geschichte zu erinnern?

Ich habe das Gefühl, dass ich diesen Wunsch erfüllt habe. Mit diesem Film und dem Buch, das über Reyhaneh geschrieben wurde. Sie sind wie zwei Flügel im Wind, und jetzt ist Reyhaneh in viele Häuser geflogen, und ihre Geschichte wurde von vielen Menschen auf der ganzen Welt gesehen. Und die Geschichte reist noch an weitere Orte, die sie noch nie gesehen oder bereist hat.


Aktuell, gerade in den letzten Wochen, gibt und gab es sehr viele Hinrichtungen im Iran. Sie haben sehr viel Erfahrungen mit diesem Thema; und mit jeder Hinrichtung werden Sie an ihre Tochter erinnert...

Jede Nacht, wenn eine Person in Einzelhaft verlegt wird und dies durch die Nachrichten geht, bleibe ich bis zum Morgen wach – und diese Zeit ist für mich keine normale Nacht. Sie ist sehr lang. Und was danach passiert – wenn sie zum Beispiel der Familie der oder des Inhaftierten keinen Abschied oder am Ende eine friedliche Beerdigung ermöglichen –, kenne ich sehr gut. Bei uns war es genauso. Wir konnten uns auch nicht so einfach verabschieden, die Beamten waren da, sie schrien und verhafteten weitere Menschen.


Woher nehmen Sie die Kraft, den Kampf fortzusetzen?

Sie kommt aus dem Herzen, sie entsteht, wenn Sie den Wunsch haben, dass das System reformiert wird, und Sie bereit sind, alles zu tun, um Hinrichtungen zu stoppen und abzuschaffen. Aus diesem Grund fühle ich mich persönlich verpflichtet, dass ich etwas Gutes tue, wenn ich zum Beispiel das Blutgeld sammele, um eine Hinrichtung zu verhindern. Ich habe das auch gemacht, als Reyhaneh noch im Gefängnis war.


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Anmerkung der Redaktion: Das islamische Recht der Scharia erlaubt es den Angehörigen von Opfern, den Tätern im Gegenzug für die Zahlung einer finanziellen Kompensation (Blutgeld) zu vergeben. Dann können selbst verurteilte Mörder noch in letzter Minute begnadigt werden.

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Reyhaneh Jabbari vor Gericht

Reyhaneh hat das im Gefängnis auch getan, sie hat mit denjenigen gesprochen, die niemanden hatten. Ich bin inzwischen auch zu einem Profi darin geworden, solche Menschen zu unterstützen, mit den Familien zu sprechen, für sie Vergebung zu erlangen. Ich habe das Gefühl, dass ich damit Reyhanehs Weg fortsetze. Obwohl ich nicht im Iran lebe, werde ich oft kontaktiert, weshalb ich aus der Ferne helfe. Manchmal gelingt es mir nicht, und leider werden dann Menschen hingerichtet, so wie damals meine Tochter. Aber wenn es mir gelingt, dann sage ich: Reyhaneh, Du warst diejenige, die es so oft geschafft hat. Man tut alles, damit ein Mensch nicht stirbt und eine Familie nicht diese schwere Nacht verbringen muss – letztes Treffen, letzte Nacht, Beerdigung. Im Grunde ist die Hinrichtung voller Gewalt, und man versucht, diese Gewalt so wenig wie möglich geschehen zu lassen. Ich bekomme meine Energie von Reyhaneh, ich spüre, dass sie in mir sitzt und mir sagt, dass ich das tun solle, und ich tue es.

Was ist das beste Mittel, um – zum Beispiel aus dem Ausland heraus – solche Hinrichtungen zu verhindern?

Uns hat damals im Iran zunächst niemand geholfen, wir hatten das Gefühl, dass wir in einer dunklen Welt voller Grausamkeit die Einzigen waren, die schrien, und dass es niemanden gab, der uns half. Als dann Leute Petitionen eingereicht haben und Unterschriften gesammelt wurden, hat uns das ermutigt und uns gezeigt, dass es Menschen gibt, die auf unserer Seite sind.

Diese Petition hat Reyhaneh nicht geholfen, Reyhaneh wurde nicht gerettet – aber sie hat uns Mut gemacht. Das hat unser Herz erwärmt. Das Mindeste, was man von außerhalb Irans tun kann, ist, solche Petitionen zu unterzeichnen, denn die Nachricht wird die Familien erreichen und sie werden ermutigt, den Kampf fortzusetzen.

Darüberhinaus können sich die Menschen in manchen Ländern an die Politiker wenden, sie können Briefe auch an verschiedene Institutionen schreiben. Wenn ein Deutscher die Bundesregierung bittet, keine Verhandlungen mit dem Iran zu führen ohne die Forderung, die Hinrichtungen abzuschaffen, hat das mehr Wirkung, als wenn ich diese Bitte als Iranerin stelle.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mit den Menschen im eigenen Umfeld über die schreckliche Situation der Hinrichtungen zu sprechen, um sie darauf aufmerksam zu machen.

Im Mai wurden im Iran etwa 200 Menschen hingerichtet, was keine geringe Zahl ist, und diese Zahl ist lediglich die offiziell bekannt gegebene – viele Menschen werden heimlich hingerichtet und niemand weiß es.

Erst als ich mich mit diesem Thema beschäftigte, wurde mir klar, wie viele Familien Angehörige haben, die hingerichtet wurden. Nach Reyhanehs Hinrichtung erzählte mir der Verkäufer unseres Supermarkts in der Nachbarschaft, der immer schwarz gekleidet war, dass auch sein Kind hingerichtet wurde. Ich war seit 20 Jahren Kundin dieses Supermarkts, aber ich wusste nichts davon.

Es gilt also, die Aufmerksamkeit der Menschen auf das Thema zu lenken, von Menschen aus verschiedenen Ländern wie Deutschland, Frankreich, den USA. In den USA gibt es immer noch ein Todesstrafen-Gesetz, allerdings ist die Struktur der dortigen Justiz nicht mit der des Iran vergleichbar. Eine Sensibilisierung für das Thema kann sehr effektiv sein.


Wie schätzen Sie die aktuelle Pro­testbewegung ein, was ist der Stand der Dinge? Wird sie am Ende erfolgreich sein?

Ich nenne diese Bewegung eine Revolution, weil sie die Zeichen einer Revolution hat und es nicht nur darum geht, gegen Kopftuch und Hijab zu protestieren. Von den ersten Tagen an war in den Parolen auch vom Tod des Diktators die Rede, außerdem ging es von Beginn an um die Solidarität verschiedener ethnischer Gruppen.


Diese Bewegung ist eine nicht-religiöse Bewegung, und auch das ist sehr wichtig. In früheren Bewegungen hörten wir „Allahu Akbar“, und bei den Demonstrationen wurde der Name Gottes und des Propheten erwähnt, zum Beispiel „ya Hossein, Mir Hossein“ in der Grünen Bewegung. Aber es gibt in dieser aktuellen Bewegung keine religiösen Zeichen, und das zeigt, dass grundlegende Veränderungen stattgefunden haben. Bei den vorherigen Bewegungen beruhigte sich die Bevölkerung nach der Niederschlagung, und die Situation kehrte fast zum vorherigen Zustand zurück – obwohl die Wut in den Menschen bestehen blieb. Aber jetzt, obwohl keine Menschen auf der Straße sind und es keinen Protest gibt, sind die Mädchen und Frauen immer noch ohne Hijab auf der Straßen unterwegs und haben nicht aufgehört zu kämpfen.

Das Regime ist nicht blind und unerfahren und versucht den Umsturz mit den Partnern und Verbündeten, die es außerhalb Irans hat, zurückzudrängen. Das gelingt auch, weil es keine richtige Opposition im Exil gibt. Wie lange würde der Umsturz Ihrer Meinung nach dauern, wenn die Geschichte so weitergehen würde? Es gab zu viele Kämpfe: Vertrauen ja, Vertrauen nein – bezogen auf die Kampagne der Fans von Reza Pahlavi. Einheit ja, Einheit nein. Auch wurde eine Charta verfasst, die nicht funktioniert hat. Das passt dem Regime gut in die Karten.


Ich denke, dass die Freiheit wie ein Gipfel ist, den das iranische Volk erklimmen muss. Ein Bergsteiger kann manchmal direkt zum Gipfel klettern, manchmal muss er aber einen Umweg machen, und es scheint dann, als würde er sich vom Gipfel entfernen, aber tatsächlich bleibt er auf dem Kurs. Manchmal muss er sich ausruhen, manchmal geht er schneller, manchmal langsamer aufgrund vieler Kurven und Steigungen. Aber wenn seine Augen nur auf den Gipfel gerichtet sind und sein einziges Ziel darin besteht, den Gipfel des Berges zu erreichen, kann es gelingen.


Wann wird dies gelingen?

Ich sage keinen bestimmten Zeitpunkt voraus, aber ich spüre den Geruch der Revolution. Die Menschen im Iran haben in den Feldzügen von 1401 viel Erfahrung gesammelt und verhalten sich sehr unterschiedlich. Ob die Menschen, die an vorderster Front stehen und kämpfen und ins Gefängnis gehen, blind werden, oder die älteren Menschen, die nicht auf der Straße sind und von denen wir keine Stimme hören, sehen... Und wenn Sie sie fragen, werden sie feststellen, wie viel sie wissen und wie viel sie verstehen.


Ich bin mir sicher, dass dieses Regime nicht von Dauer sein wird, aber ich mache mir Sorgen um die Zukunft des Iran. Ich habe das Gefühl, dass ohne Einigkeit und Solidarität eine neue Gefahr entstehen kann. Ich möchte nicht beschwören, dass der Iran gespalten sein wird, aber es ist möglich. Natürlich haben Regierungen den Iran immer geteilt und Vereinbarungen getroffen (ich verweise auf den Frieden von Turkmantschai, auf Golestan und jetzt auf das Kaspische Meer). Wenn unsere Augen nicht wachsam und wir nicht einig sind, können sie uns alles aufzwingen.


Ich mache mir auch Sorgen um die angesammelte Wut in den Menschen. Ich sage immer: Nein, wir wollen auch keine Todesstrafe für Kriminelle. Andere Menschen fordern aber, dass die Kriminellen der Islamischen Republik hingerichtet werden sollen. Ich habe Angst vor einem Blutvergießen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Revolution erfolgreich sein wird, manche Revolutionen sind länger, manche kürzer, manche sind teuer. Ich denke, die Menschen haben diesen Preis akzeptiert, weil sie aus den Fängen der Islamischen Republik gerettet werden wollen.

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