top of page

„Republik“ der Angst – der Iran vor dem Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini

In keinem anderen Land der Welt gibt es so viele Gedenktage wie im Iran. Die schiitische Herrschaft gestaltet sie wie politische Massendemonstrationen. Doch nicht nur die Mächtigen, auch „die Ohnmächtigen“ begehen ihre Jahrestage. Derzeit nähern wir uns dem 16. September, dem Jahrestag des Todes von Jina (Mahsa) Amini.



Von Ali Sadrzadeh


Schreiben oder Schweigen? Ein gefährlicher Scheideweg. Das Aufzählen des Negativen führe unweigerlich zum Negativen: „Je mehr Ihr über Unterdrückung berichtet, um so näher seid Ihr dem harten Kern des Unterdrückungsapparats“, schreibt ein Aktivist aus Teheran.


Auslandsiraner*innen als Angstverstärker? Ein harter, ungeheuerlicher Satz, der jeden entwaffnet, der über Iran schreibt. Adressaten des Schreibers sind jene Auslandsiraner*innen, die Chronisten der dramatischen Ereignisse ihres Landes sind. Überhören können wir diesen Satz nicht. Denn der Absender ist ein informierter, nachdenklicher Aktivist. Auch seine Logik ist einleuchtend und nachvollziehbar, denn er geht von etwas aus, das dieser Tage unbestreitbar ist: von Angst.


„Ihr wisst, was Theorie und Praxis des Regimes ist“, schreibt der Aktivist und fügt hinzu: „Dank Internet und persischsprachiger Auslandssender verbreitet und reproduziert sich hierzulande sehr schnell, was Ihr im Ausland sagt und tut. Indirekt verstärkt Eure achtbare, gut gemeinte Aktivität im Ausland das Angstecho hierzulande.“


Sieg durch Angst


Und er hat in gewisser Weise recht. Zweifelsohne ist Angst die wichtigste Waffe der Mächtigen dieser merkwürdigen „Republik“.


النصر بالرعب

– „Sieg durch Angst“. Dieser Spruch soll der Prophet der Muslime bei allen seinen Schlachten gerufen haben, schreiben Chronisten der Prophetenkriege. Auch der Koran betont mehrmals, mit Schrecken und Furcht würden die Seele der Ungläubigen erobert. Die Geschichte will nicht vergehen.



Wieder stärker präsent in der Öffentlichkeit: Die Sittenpolizei

Wenn Angstproduktion die strategische Waffe der islamischen Macht ist, bleibt dem schreibenden Zeitzeugen unweigerlich nichts anderes als die Aufzählung des Negativen. Für den geliebten Propheten sei Angst immer eine Waffe, eine Methode zur Verbreitung des Islams gewesen, „auch in unserem heutigen Kampf kann das vorkommen“, sagte das Staatsoberhaupt Ali Khamenei auf dem Höhepunkt der letzten Protestwelle.


Wichtig ist das Warum


Wird das wichtigste „W“ aller Journalistenfragen, nämlich das Warum, vergessen, dann kann man tatsächlich zum Verstärker des Angstechos werden, wie der Teheraner Kritiker meint.

Also: Warum ist Khamenei gezwungen, Angst zu verbreiten? Dieser Kontext ist entscheidend.

Die Antwort lautet: Weil er selbst verängstigt ist, er fühlt sich von vielen Seiten bedroht. Frauen, Studierende, Professor*innen, Schüler*innen, Rechtsanwälte, protestierenden Rentner*innen und sogar von manchen aus schiitischen Lehrseminaren: Sie alle bilden Facetten seines Angstgebäudes, aus dem er seine Entscheidungen trifft.


Beginnen wir mit jenen Frauen, um die sich in diesen Tagen alles dreht, jene, die nach Ansicht Khameneis „sowohl politisch wie religiös Frevel“ begehen, was sofort unterbunden werden müsse.

Als ob eine umfassende Feindesinvasion bevorstünde, wappnet sich seit Wochen der gesamte Staat gegen Verstöße gegen den Hijab. Gezimmert wurde schließlich ein Gesetzeswerk von 79 Paragraphen mit martialischen Strafen für jene Frauen, die wagemutig ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit erscheinen. Denn ein Viertel der Frauen hält sich nach Untersuchungen des Parlaments nicht an den Hijab, in einigen Stadtteilen der Großstädte sei dieser Prozentsatz noch viel höher.


Obligatorische Vollstrecker dieses Gesetzes sind nicht nur offizielle Institutionen des Staates, nicht allein die Exekutive, der Justizapparat und die Kultureinrichtungen. Auch Inhaber und Verwalter von Arztpraxen, Krankenhäusern, Kinos, Geschäftspassagen und Restaurants sind Vollstrecker des Hijab-Gesetzes. Mit einem Wort: Jeder gegen jede.


Die juristisch verworrene Paragraphensammlung haben zehn Männer in einem besonderen Ausschuss hinter verschlossenen Türen verabschiedet. Ein Gesetz zur Spaltung der Bevölkerung, eine Anleitung zum Bürgerkrieg, urteilt die renommierte Juristin Mehrangiz Kar über das Hijab-Machwerk.


Vielen Ultraradikalen ist das Gesetz trotzdem nicht radikal genug. Hossein Schariatmadari, der einflussreiche Chefredakteur der Tageszeitung Keyhan, fordert Sondervollmachten für die Basijis, die paramilitärischen Verbände. Ali Khamenei, der mächtigste Mann des Landes, bestimmt persönlich über diesen Redaktionsposten.


Ayatollah Ali Moalemi forderte die Auspeitschung kopftuchloser Frauen an Ort und Stelle. Der 70-jährige Ayatollah ist Mitglied des so genannten Expertenrats, der den Revolutionsführer wählt.


Geschlossene Unis


Eine weitere Quelle von Khameneis Angst sind die Universitäten. Deshalb bleiben sie an Jinas (Mahsas) Todestag geschlossen. Alle Vorlesungen werden im kommenden Semester virtuell sein. Noch befinden sich die Student*innen in den Sommerferien, der just an ihrem erstem Todestag zu Ende geht. Bis zu diesem Tag sind in den letzten Wochen 78 Universitätsprofessoren entlassen worden, hauptsächlich Hochschullehrer der Geisteswissenschaften. Zugleich rollt eine Welle der Verhaftungen. Denn Jinas nahender erster Todestag macht die Herrschaft völlig nervös.


Überwachungskameras auf Friedhöfen


Auch die Familien und Freunde der bei den Protesten getöteten Demonstrant*innen, es sind offiziell mehrere Hundert, sorgen für Angst, weil sie an diesem Jahrestag aktiv werden wollten. Doch ein Teil von ihnen sitzt inzwischen in den Gefängnissen.

Sogar die Gräber vieler der über 500 Opfer der Unruhen werden mit Kameras kontrolliert, weil die Sicherheitskräfte am Mahsas Todestag Demonstrationen auf Friedhöfen fürchten.


Eine alte Audiodatei


Je näher der erste Todestag Jinas rückt, um so größer scheint die Nervosität zu werden. Am vergangenen Samstag kam eine zwei Jahre alte Audiodatei von Mohammad Ali (Aziz) Jafari, dem Ex Kommandanten der Revolutionsgarden, wieder im Umlauf. „Seid im Kampf gegen alle, die die Republik herausfordern feuerfrei“, ermutigte damals der General die Basidj-Milizen.

Den Ausdruck “feuerfrei“ erwähnte zum ersten Mal Ali Khamenei 2017 bei einer Audienz für eine Gruppen der regimetreuen Studenten. „Feuerfrei“ komme nicht nur im klassischen Krieg vor, wo jeder Kämpfer nach eigenem Ermessen handeln müsse. Im Kampf für die Durchsetzung der islamischen Gebote könne und dürfe die Regierung nicht immer alles tun, was gegen die Unruhestifter getan werden soll, hier beginne die Stunde „der Feuerfreien“, sagte Khamenei.


Aufruf zum Kampf


Gleichzeitig zu diesen martialischen Tönen schreibt Narges Mohammadi, Ikone der iranischen Frauenbewegung, aus ihrer Zelle im Evin-Gefängnis einen dramatischen und programmatischen Brief zu Jinas Todestag. Das letzte gültige Urteil gegen sie lautet nach Angaben ihres exilierten Ehemanns acht Jahre Gefängnis und 70 Peitschenhiebe. Die Schlacht mögen sie gewonnen haben, den Krieg hätten sie aber längst verloren: Die entfachte Bewegung Frau,Leben, Freiheit verheiße den Anfang vom Ende des Regimes, schreibt Mohammadi: „Endet die Herrschaft über den Frauenkörper, endet diese Herrschaft insgesamt.“

Vor fünf Tagen trafen sich ehemalige politische Gefangenen mit Mohammad Chatami, dem Ex-Reformpräsidenten. Das System befinde sich auf dem Weg der Selbstzerstörung, es sei denn, es kehre um, antwortete Chatami auf die Frage eines Anwesenden, wo sich die politische Ordnung momentan befinde.


Angst bestimmt also das Handeln – das der Gegner ebenso wie das der Herrscher dieser „Republik“. Trotz all dem kann es durchaus sein, dass an diesem 16. September nichts passiert und alles ruhig bleibt. Das wird aber eine vorübergehende, eine taktische Ruhe sein.


Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des IranJournal

bottom of page