Wie beobachten IranerInnen oder Exil-IranerInnen und Iran-ExpertInnen die Proteste in Iran? Mit einem Fragebogen holen wir Stimmen ein. Diesmal: der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze.
Die Proteste in Iran halten seit Wochen an. Mit welchen Gefühlen oder Gedanken beobachten Sie diese aktuell?
Ich begegne der Protestbewegung mit Bewunderung, Freude und Hoffnung, aber auch mit Besorgnis, Trauer und Entsetzen. Die enorme mediale Präsenz der Bilder, die die Proteste dokumentieren, schaffen eine virtuelle Nähe, die auch die Gedanken an die Opfer prägt. Zugleich aber drängen mich meine Gedanken auch dazu, die Protestbewegung analytisch in den Blick zu nehmen, um Hintergründe zu erarbeiten und prognostische Aussagen über ihre Zukunft zu machen.
Haben Sie direkte Kontakte zur Bevölkerung in Iran? Falls ja: Was hören oder lesen Sie dort?
In den letzten Tagen sind die Kontakte zu meinen Gesprächspartnern in Iran etwas geringer geworden, was kein gutes Zeichen ist. Das Regime versucht offensichtlich, die Informationswege zu begrenzen und dort, wo dies nicht gelingt, zu kanalisieren. Und doch: Ich bekomme den trotzigen Widerstand mit, die lebensweltlichen Proteste, die Wut auf das Regime und seine Protagonisten und die Überzeugung, dass das Regime stürzen wird, da die Bevölkerung aufs Ganze gesehen den längeren Atem habe.
Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein? In welcher Phase sind die Proteste?
Wir müssen unterscheiden zwischen dem Status der Protestbewegung und dem Status des Regimes. In der iranischen Gesellschaft herrscht schon seit 2019 verbreitet eine Proteststimmung, die immer wieder in Revolten umschlägt. Derzeit stellt sich die Protestbewegung auf die wachsende Repression des Regimes ein und versucht, neue Protestforen zu gewinnen. Die Proteststimmung ist breit verankert: 84% der IranerInnen wollen einen Systemwechsel. Das Regime beginnt sich gegenüber der Gesellschaft abzuschotten und verstärkt zugleich die Repression. Manches erinnert an die Sommermonate 1989, als in Osteuropa die Proteststimmung immer sichtbarer wurde und die Regime die Augen vor dem erwarteten Wandel verschlossen. Dann kamen der Herbst und der Winter 1989, die mit dem Sturz fast aller Ostblockregime endeten.
Anders als viele andere große Proteste und Revolutionen geht diese auf den Aufstand von Frauen zurück. Was macht die feministische Revolution so besonders?
Frauen sind nach der herrschenden Ideologie des Regimes symbolische Trägerinnen der islamischen nationaliranischen Revolution. Frauen wurden vom Regime immer wieder in Szene gesetzt, um diesem iranisch-islamischen Nationalismus ein Gesicht zu geben. Dazu gehörte das Tragen des Kopftuchs oder des Tschadors als islamische Symbole der iranischen Nation, wie es Khomeini 1979 ausgedrückt hatte. Doch damit war eben keine politische, soziale oder kulturelle Souveränität der Frauen über ihr eigenes Leben verbunden. Genau diese Souveränität wird nun breit eingefordert und zur Grundlage einer politischen Freiheit der Gesellschaft gemacht. Da Frauen von dem islamisch gedeuteten radikalen Regime öffentlicher Moral persönlich und alltäglich am stärksten betroffen waren und sind, trägt ihre Emanzipation die Vision für eine ganze Gesellschaft.
Hierzulande – in Deutschland als auch anderen westlichen Ländern – wird das Thema in den Medien überlagert von anderen Themen wie dem Ukraine-Krieg. Was muss sich tun, um dies zu ändern?
Immer deutlicher bestätigt sich, dass das Geschehen in Iran und das in Ukraine eng verflochten sind. Das betrifft nicht nur die politisch-militärische Allianz zwischen Iran und Russland und die Tatsache, dass iranische Raketen und Drohnen für die russische Armee in Ukraine im Einsatz sind. Maßgeblich ist auch die Verflechtung der politischen Visionen in beiden Ländern: die Verteidigung oder Durchsetzung einer demokratisch verfassten Rechtsstaatlichkeit. Zudem hat sich erwiesen, dass die ideologischen Grundlagen des Regimes der Islamischen Republik, also die „Islamische Revolution“, eine Familienähnlichkeit mit der sowjetischen Herrschaftsordnung und ihrem russischen Nachfolgeregime aufweist. Diese Verflechtung aufzuzeigen ist wichtig, weil die Zukunft der Islamischen Republik stark von Russland abhängig ist. So ist zu vermuten, dass Russland einen Sturz des Regimes in Teheran nicht tatenlos hinnehmen würde. Zugleich würde aber auch ein Scheitern Russlands im Krieg gegen Ukraine der Protestbewegung in Iran neue Handlungsräume eröffnen, weil das Regime dann nicht mehr unter Russlands (atomarem) Schutzschirm Zuflucht suchen kann.
Was ist Ihre Prognose: In welche Richtung wird sich Iran bzw wird sich der Aufstand in den kommenden Monaten entwickeln?
Das Regime in Teheran findet kaum noch Zustimmung und Anerkennung unter der iranischen Bevölkerung. Es ist in den Augen der großen Mehrheit schlicht illegitim. Darauf reagiert die Bevölkerung mit einer aktiven oder passiven Streikhaltung. Bestreikt wird die Kooperation mit dem Regime. Dieser Streik wird über Monate anhalten, trotz der Tatsache, dass immer wieder Streikbrecher auftreten können. Je nach außen- und innenpolitischen Konstellationen kann dieser Streik wieder zu Massenprotesten eskalieren. Wenn dann zur Protestbewegung zum Beispiel eine Verschärfung der ökonomischen Lage hinzutritt (wie 2019/2020 im Rahmen der Wasserkonflikte in Khuzestan oder der Versorgungskrise), dann entsteht eine Stimmung, die auch den politischen Sturz des Regimes beschleunigen kann. Doch unabhängig davon ist klar, dass das Ende der Islamischen Republik herandämmert, selbst wenn es den Verlust seiner ideologischen Legitimität durch verschärfte Repression auszugleichen versucht.
Reinhard Schulze wurde 1953 in Berlin geboren und wurde 1981 nach dem Studium der Islamwissenschaft, Linguistik und Romanistik an der Universität Bonn promoviert. Nach der Habilitation 1976 bekleidete er Professuren an den Universitäten Bochum und Bamberg, und wirkte von 1995 bis 2018 als ordentlicher Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern. Seit 2018 leitet er dort das transdisziplinäre Forum Islam und Naher Osten.
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