In Iran wird die digitale Infrastruktur ausgebaut. Gleichzeitig wird das Netz zunehmend staatlich kontrolliert, und das Regime arbeitet an einem nationalen Internet. Der Kommunikationswissenschaftler und Iran-Experte Marcus Michaelsen spricht über die Gegenkultur zur Zensur und die politische Schlagkraft des Internets.
bpb.de: Am 8. Januar 2020 stürzte in Iran kurz nach dem Start vom Flughafen Teheran eine ukrainische Passagiermaschine ab. Alle 176 Menschen an Bord starben. Irans Regierung sprach zunächst von einem Unfall, musste später aber einräumen, dass das Flugzeug versehentlich abgeschossen wurde. Es folgten Proteste in Iran, auch weil die Menschen von den staatlichen Medien zunächst in die Irre geführt worden waren. Welche Rolle spielten in dieser Situation Internet und soziale Medien, um an unabhängige Informationen zu kommen?
Marcus Michaelsen: In dieser Situation waren die ausländischen TV-Satellitensender zunächst am wichtigsten, wie zum Beispiel das persische Fernsehprogramm der BBC. Aber auch andere internationale Sender mit persischen Programmen. Aber für den Austausch untereinander sowie die schnelle Verbreitung von Nachrichten und auch Gerüchten sind natürlich Internet und soziale Medien sehr wichtig.
Die verschiedenen Medien zusammen bieten einen Informations- und Diskussionsraum, in dem die offiziellen Nachrichten der staatlichen Medien recht schnell hinterfragt und auch korrigiert werden können.
Diesen Diskussionsraum im Internet empfindet das Regime in Teheran als Bedrohung. Das wurde im November 2019 deutlich. Nachdem die Regierung die Benzinpreise erhöht hatte, kam es landesweit zu Protesten. Die Sicherheitskräfte reagierten mit massiver Gewalt, und das Regime sperrte für fast zwei Wochen das Netz. Wie funktioniert solch eine Internet-Blockade?
Internationale Nichtregierungsorganisationen, die diese Blockade gemessen haben, sagen, dass es eine der umfassendsten und technisch komplexesten Internetblockaden weltweit war. Es dauerte mehrere Stunden bis die Internetverbindungen ins Ausland komplett heruntergefahren waren: Zunächst haben die mobilen Internetanbieter die Verbindungen gestoppt, dann alle anderen Provider auch. Es scheint, dass die unterschiedlichen Anbieter dazu von der Regierung angewiesen wurden. Mit der Blockade wurde der Datenverkehr auf etwa fünf Prozent des normalen Volumens gesenkt.
Das Regime war also erfolgreich?
Wenn es darum geht, das Land abzuriegeln und Kommunikation zu unterbinden, dann war die Regierung erfolgreich. Aber das geht natürlich mit enormen wirtschaftlichen Einbußen einher. Außerdem hat die Internet-Sperre auch international noch einmal viel Aufmerksamkeit für die Situation in Iran erregt.
Aber solche Internetblockaden werden auch in anderen Ländern immer häufiger eingesetzt. Es geht hier leider nicht allein um Iran.
Die Internet-Sperre ist ein Instrument der Zensur. In Iran werden auch einzelne Webseiten gesperrt. Oder es gibt ein "smart filtering": dabei werden nur bestimmte Inhalte gesperrt. Es gibt also eine alltägliche, immer gezieltere Zensur. Wie funktioniert die und können Iraner und Iranerinnen sie umgehen?
Die Zensur in Iran hat sich über ein Jahrzehnt hinweg graduell entwickelt. Dabei wurde sie immer umfassender und auch schärfer. Zunächst gab es einfache Listen, auf denen Webseiten standen, die blockiert wurden. Mittlerweile werden Internetinhalte in erheblichem Umfang gefiltert; die großen Plattformen wie Facebook und Twitter geblockt und überwacht. Auch können Datenströme überwacht werden, um verschlüsselte Verbindungen zu unterbrechen oder um zu sehen, ob jemand Umgehungssoftware benutzt, um Sperren auszutricksen. Außerdem wird das Internet zu bestimmten Zeiten verlangsamt: Das passiert zum Beispiel teils vor Wahlen, wenn die Regierung Proteste und Mobilisierung fürchtet. Das sind alles Maßnahmen der Zensur, die im Laufe der Jahre entwickelt wurden und die auch von der Regierung gern als „smart filtering“ bezeichnet werden. Gleichzeitig haben die Iranerinnen und Iraner auch gelernt, damit umzugehen. Viele nutzen Umgehungssoftware oder VPNs, also virtuelle private Netzwerke. Der Tor-Browser, der für Anonymität sorgt, hat sehr hohe Nutzerzahlen in Iran. Und es sind nicht nur technisch versierte Jugendliche, die so etwas nutzen, sondern ebenso Eltern und Großeltern. Sie fragen ihre Kinder und Enkel zum Beispiel, welche VPNs zurzeit die besten sind, um anonym ins Internet zu gelangen. Diese Gegenkultur zur Zensur ist sehr verbreitet.
Dieser Gegenkultur gehören also nicht nur junge Leute aus Irans Städten an.
Die iranische Gesellschaft ist per se sehr kommunikativ und an Austausch interessiert. Der Messenger-Dienst Telegram zum Beispiel – eine Alternative zu WhatsApp – wurde Mitte 2018 in Iran blockiert. Bis dahin hatte der Dienst bis zu 40 Millionen Nutzer in Iran. Das waren natürlich nicht nur Jugendliche: Iran hat rund 80 Millionen Einwohner insgesamt.
Nach der Blockade sind viele nicht zu anderen Plattformen gewechselt, sondern haben Telegram weitergenutzt – zum Beispiel mit Hilfe von Umgehungssoftware. Solche Ereignisse wie die Blockade von Telegram fördern eher den subversiven Umgang mit Zensur und Informationskontrolle.
Dass in Iran so viele das Internet nutzen, hängt aber auch zusammen mit dem Netzausbau in den ländlichen Gebieten sowie mit dem Ausbau des mobilen Internets. Die derzeitige Regierung unter Präsident Hassan Rouhani hat nach seinem Amtsantritt 2013 viel dafür getan, dass die Internetverbindungen im Land ausgeweitet wurden.
Das Internet wird also ausgebaut, aber zugleich zunehmend staatlich kontrolliert. Wie passt das zusammen? Und zeigt sich darin der politische Streit zwischen Konservativen und Reformern im Land?
Von konservativeren Kräften wurde immer verlangt, dass der Ausbau der digitalen Infrastruktur einhergeht mit dem Ausbau von Zensurmöglichkeiten und der Stärkung eines nationalen Internets. Damit sollen inländische Verbindungen gestärkt werden, um gegebenenfalls internationale Verbindungen besser kontrollieren zu können.
Der Ausbau eines nationalen Internets ist außerhalb Irans als sogenanntes Halal-Internet, also "reines" Internets, bekannt geworden. Es wurde 2010 angekündigt. Wie weit ist das Regime damit?
Beim Internet-Blackout im November 2019 hat man den Einsatz des nationalen Internets gesehen: Internationale Verbindungen wurden gekappt, aber im Land wurden teils noch Verbindungen aufrechterhalten. Einige inländische Webseiten konnten noch aufgerufen werden. Mit einem leistungsfähigen Internet im Inland will man den internationalen Datenverkehr besser kontrollieren und gegebenenfalls unterbrechen können. Gleichzeitig soll zum Beispiel das digitale inländische Bankensystem oder die Verwaltung aber noch funktionieren.
Hinzu kommt, dass Iran unter internationalen Sanktionen steht, vor allem von Seiten der USA. Diese werden auch von westlichen Unternehmen wie Google oder Apple umgesetzt, sodass in Iran nicht alle Dienste zugänglich sind. Das nutzt Teheran als Anreiz, aber auch als Legitimation für ein iranisches Internet. Die Regierung kann behaupten, dass sie die Abhängigkeit vom Ausland reduzieren und alternative Anwendungen schaffen muss: In Iran gibt es zu jedem Dienst, den wir kennen – wie Google, YouTube oder WhatsApp – eine iranische Alternative, und die Regierung versucht die Bevölkerung zu motivieren, diese auch zu nutzen, zum Beispiel über unterschiedliche Preismodelle für in- und ausländischen Datenverkehr. Wenn auch nicht sehr erfolgreich.
Auch in Iran gehört das Internet nicht allein den liberalen Kräften. Die Regierung nutzt ebenso das Internet und es gibt Internetnutzer, die regimetreu sind. Wie unterschiedlich wird das Netz politisch genutzt?
Das Regime hat schon sehr früh das Internet genutzt. Auch viele Geistliche haben seit Langem eigene Webseiten, auf denen sie der Bevölkerung ihre Auslegung des Islam präsentieren. Die unterschiedlichen politischen Fraktionen und Gruppen nutzen Webseiten, Blogs und soziale Medien, um Nachrichten und Meinungen zu verbreiten. Alle ranghohen Regierungsvertreter sind in den sozialen Medien präsent.
Iran ist aber auch sehr aktiv, was Desinformation angeht. Teheran versucht in anderen Ländern wie Ägypten oder sogar den USA den politischen Diskurs im Netz zu beeinflussen. Dafür werden Informationen in unterschiedlichen Sprachen verbreitet, teils über falsche Facebook-Profile. Ebenso werden via Internet auch Oppositionelle oder Dissidenten, die im Ausland sind, überwacht und teils unter Druck gesetzt. (Marcus Michaelsen hat dazu eine Studie herausgegeben, die der digitalen Bedrohung und Überwachung von Aktivisten aus Ägypten, Syrien und Iran im Exil nachgeht.)
Dennoch entsteht im Westen schnell der Eindruck, dass in Iran Internet und soziale Medien vor allem von den liberalen Kräften genutzt werden. Das hängt auch mit dem Jahr 2009 zusammen und der Grünen Bewegung. Damals machten Begriffe wie Twitter-Revolution oder Cyberdemokratie die Runde. War das ein Mythos?
2009 war Iran eines der ersten und wichtigsten Beispiele dafür, wie das Internet als Liberalisierungskraft wahrgenommen wurde. Das setzte sich fort mit den Protesten des Arabischen Frühlings, aber auch mit den Gezipark-Protesten 2013 in der Türkei oder der sogenannten Regenschirm-Revolution 2014 in Hong Kong.
Aber unsere Wahrnehmung hat sich verändert. Sie ist mit den Enthüllungen durch Edward Snowden in 2013 gekippt. Soziale Medien wie Facebook werden verstärkt auch als Gefahr für die Demokratie gesehen. Wenn über Proteste wie im Januar 2020 in Iran berichtet wird und man sieht junge Demonstranten mit ihren Smartphones auf der Straße, dann ist dieses Bild des Internets als Liberalisierungskraft wieder da. Dennoch ist die Wahrnehmung, was soziale Medien bewirken können, deutlich pessimistischer geworden.
Bleiben wir bei Iran: Ist das Land ein Beispiel dafür, dass die politische Schlagkraft des Internets doch eher begrenzt ist?
Technologien alleine erzeugen keine politischen Effekte oder Veränderungen. Es kommt immer auf das gesellschaftliche Umfeld an, auch auf die politischen Machtverhältnisse. Internet und soziale Medien schaffen Debattenräume. Ebenso die Möglichkeit zur raschen Mobilisierung oder um Entrüstung schnell in die Öffentlichkeit zu bringen, wie zum Beispiel während der Proteste in Iran im November 2019 nach der Erhöhung der Benzinpreise. Aber wenn man an einen grundlegenden politischen Wandel denkt, dann braucht es eine organisierte Opposition. Es muss Streit oder Risse in der Machtelite geben und auch ein günstiges internationales Umfeld. Das alles ist in Iran im Moment nicht gegeben.
Das Interview führte Sonja Ernst.
Original-Text: Bundeszentrale für politische Bildung, Marcus Michaelsen, CC BY-NC-ND 4.0
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