Iraner posten in den sozialen Medien Tanzvideos, um einen Mann zu unterstützen, der strafrechtlich verfolgt wird, weil er auf der Straße singt und tanzt und Videos davon veröffentlicht.
Der fast siebzigjährige Fischhändler Sadegh Bagheri (alias Boughi) wurde in den letzten Monaten zu einer Instagram-Berühmtheit, nachdem Videos in den sozialen Medien veröffentlicht wurden, in denen er im Basar von Rasht, einer Küstenstadt am Kaspischen Meer im Norden des Landes, singt und tanzt. Bagheris Auftritte zogen die Aufmerksamkeit der Basarkunden auf sich, die sich oft um ihn und seine Freunde scharten, zur Musik klatschten und manchmal sogar mittanzten.
Verstoß gegen öffentliche Moral
Vergangene Woche nahm die iranische Polizei Berichten zufolge nicht nur Bagheri, sondern auch ein Dutzend weiterer Instagram-Influencer in Rasht fest, die Bagheris Videos gepostet hatten. Die Behörden übernahmen auch die Konten dieser Personen, entfernten alle Inhalte und veröffentlichten eine Mitteilung, in der es hieß, dass die Aktivitäten dieser Konten wegen »krimineller Inhalte« beendet worden seien.
Unmittelbar nachdem die Behörden die Instagram-Seite des Fischhändlers geschlossen hatten, posteten Nutzer sozialer Medien Dutzende von Videos, die Menschen zeigen, wie sie in Parks und auf Straßen zur selben Melodie tanzten, um ihre Solidarität mit Bagheri zu zeigen. Tanzen im Allgemeinen wie Popmusik im Besonderen wird vom religiösen Regime als Ausschweifung betrachtet und fällt daher in die Kategorie inakzeptablen Verhaltens.
Der stellvertretende Polizeikommandant der Provinz Gilan, Brigadegeneral Hossein Hassanpour, erklärte gegenüber den Medien, die Polizei habe gehandelt, weil die Verbreitung der Videos von Bagheris Tanz auf dem Basar von Rasht »gegen die öffentliche Moral« verstoßen und »Normen verletzt« habe. Vier Geschäfte, die an den Gesangs- und Tanzeinlagen beteiligt waren, seien ebenfalls geschlossen worden, fügte er hinzu.
In den sozialen Medien wurde darauf hingewiesen, dass die Behörden nicht gegen Regimefunktionäre vorgehen, die in Skandale verwickelt sind oder deren Lebensstil gegen die vom Establishment verkündete Moral verstößt. Stattdessen würden Leute wie der »glückliche alte Mann« verhaftet, weil er vor seinem Laden getanzt hat, und es wird behauptet, er habe die Moral der Gesellschaft angegriffen.
Kontrolle über alles
Die Grenzen, welche Musik in der Islamischen Republik akzeptabel ist und welche nicht, sind fließend. Der Iran verfügt über ein nationales Orchester, und jedes Jahr finden im ganzen Land zahlreiche Konzerte statt, doch aufgrund der Einwände des religiösen Establishments hat der staatliche Rundfunk in den vergangenen vier Jahrzehnten nie echte Musikinstrumente oder Orchester in Aktion gezeigt.
Politisch einflussreiche religiöse Führer wie der Imam der religiösen Stadt Mashhad diktieren oft die Regeln in ihren Gebieten, wie Iran International festhält. Ein Konzert, das in Teheran und anderen Städten ohne Probleme stattfinden könnte, muss in einer Stadt wie Mashhad mit einer Absage rechnen. Diese Fundamentalisten werden vom Obersten Führer Ali Khamenei unterstützt; Imame wie Ahmad Alamolhoda in Mashhad wurden vom 84-jährigen Herrscher sogar selbst ernannt. Auch das Vorgehen gegen den singenden und tanzenden Fischhändler in Rasht soll durch den für das Freitagsgebet zuständigen Imam der Stadt veranlasst worden sein.
In einem Kommentar in der reformorientierten Zeitung Ham-Mihan wurde im Anschluss darauf hingewiesen, dass sich alle Machtorgane des Landes in den Händen gleichgesinnter Beamter befänden, und es wird erklärt, dass eine »einzige Instanz« für alles verantwortlich sei, was derzeit im Lande geschieht, wie zum Beispiel die Verhaftung des tanzenden »glücklichen alten Mannes«. Indem sie die Menschen unterdrückt, sende diese »einzige Instanz«, welche die Kontrolle über alle Institutionen der Macht hat, eine klare und vorbehaltlose Botschaft an alle Iraner: Sie allein sei es, die alles bestimmt, was die Menschen tun dürfen oder nicht: »Ihr könnt tanzen, wenn ich es euch sage.«
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von mena-watch
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