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Die Revolution in Iran braucht einen langen Atem


Der Bruch zwischen der jungen Generation des Landes und dem Regime ist endgültig


Ein Jahr ist seit der letzten revolutionären Episode im Iran vergangen. Die Aufstände nach dem Tod von Jina Mahsa Amini waren die intensivsten, die die Islamische Republik Iran (IRI) jemals erlebt hat. Nun stagniert dieser Prozess, doch gleichzeitig geht er weiter. Schließlich ist der Bruch zwischen der jungen Generation des Landes und dem Regime irreparabel. Die politische Alternative, die sich viele wünschen, gibt es bereits: sie sitzt in den Gefängnissen der Mullahs. Von Hamid Mohseni


Mit großer Erwartung blickte die Weltöffentlichkeit am 16. September 2023 auf den Iran. Am Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini prognostizierten bzw. erhofften viele Expert*innen ein Comeback der Bewegung. Schließlich spielen die «Todestage» eine zentrale Rolle in der Protestchoreographie im Iran. Die politische Opposition nutzt hierfür die im Islam verankerten Trauerzeremonien an bestimmten Tagen nach dem Tod einer Person, um kollektiv ihren Unmut über das politische System zum Ausdruck zu bringen.


Wurden diese Hoffnungen in den Jahrestag erfüllt? Das liegt an der Erwartungshaltung. Diejenigen, die sich – naiverweise – nach einem nahtlosen Anknüpfen an die spektakuläre Erhebung von vor einem Jahr gesehnt hatten, wurden enttäuscht. Diejenigen, die angesichts der massiven staatlichen Repressalien im Vorhinein gar keinen Handlungsspielraum für Protest sahen, wurden positiv überrascht. Tatsächlich kamen Tausende Menschen in Städten quer durch‘s ganze Land – Teheran, Mashad, Karaj, Ahvaz, Lahijan, Seqqez, Sanandaj, Zahedan, etc. – auf die Straße und belebten mit Parolen wie sFrau, Leben, Freiheit» und «Nieder mit Khamenei» den Revolutionsgeist wieder. Kurdistan wurde zudem weitestgehend bestreikt. Die Tatsache, dass sich die Menschen nicht gänzlich einschüchtern ließen, ist bereits ein Sieg für die Bewegung, wie eine Frau in einem Video feststellt: «Gott sei Dank, die Menschen sind herausgekommen.»


Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste dort kritisch begleiten.

In Zahedan, Hauptstadt der Provinz Sistan-Balutschistans und neben Kurdistan die zweite Herzkammer der Revolution, fanden sich zahlreiche solidarische Bezugnahmen, z.B. «Ein Angriff auf Kurdistan ist ein Angriff auf Balutschistan». Solche Statements zeugen davon, dass die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen im Vielvölkerstaat Iran sich als gemeinsames revolutionäres Subjekt begreifen. Diese Solidarität verläuft nicht nur zwischen den Kategorien Ethnie bzw. Religion, sondern zwischen Geschlecht, Klasse, Alter, Wohnort (Stadt/Land). Sie charakterisiert die revolutionäre Episode aus dem letzten Jahr, mehr noch: sie ist der Schlüssel, warum sich der Iran derzeit bereits weit fortgeschritten im revolutionären Prozess befindet.


Revolutionärer Prozess statt Reformismus


Was zeichnet diesen revolutionären Prozess aus? Seit seinem Bestehen gab es relevante kritische Stimmen im Iran unter den Mullahs: Studierende, Arbeiter*innen, Frauen haben immer wieder das Regime herausgefordert, in einigen Fällen in einem strategischen Bündnis mit dem iranischen Reformismus. Dieser war jahrzehntelang hegemonial und kanalisierte stets gesellschaftspolitisches Aufbegehren. Er öffnete Fenster zu grundlegenden Veränderungen einen Spalt und ließ hier und da Blut lecken: Ende der 1990er gab es beispielsweise eine solche Phase, in denen politisch Luft zum Atmen gewährt wurde, Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden für die Verhältnisse der IRI weit ausgereizt. Die «verbrannte Generation» – jene Iraner*innen, die in den 80er Jahren geboren sind und nichts als die IRI kennen – machten erstmals Politisierungserfahrungen, etwa in den großen Studierendenprotesten 1999, in der Kampagne «Eine Million Unterschriften» der Frauenbewegung oder im viel beachteten Busfahrer*innenstreik in Teheran 2004.


Doch die Antwort der IRI auf solchen Protest war stets die harte Hand: Delegitimierung, Festnahmen, Folter, Hinrichtungen. Langfristig gesehen konnten die vielen sozialen Kämpfe an den Kräfteverhältnissen nichts ändern. Die Reformist*innen erwiesen sich hierbei als ein Haufen systemloyaler Marktschreier*innen, die diese Kämpfe einhegten, Versprechen nicht einhielten, aber regelmäßig viele verzweifelte Iraner*innen zu Wahlen mobilisierten in der Hoffnung, doch irgendwann eine etwas bessere IRI zu erstreiten.


Diese Hoffnung und mit ihr das Versprechen auf eine Reformierbarkeit der IRI wurde mit den Protesten 2017/2018 pulverisiert. Aufgrund der eskalierenden ökonomischen Situation mobilisierten diesmal selbstorganisiert Zehntausende prekäre Arbeiter*innen und Arme insbesondere in ländlichen Gegenden zu militanten Protesten. Diese waren explizit gegen das System gerichtet und begruben zudem die reformistische Idee, beflügelt von der Parole «Konservative, Reformer – das Spiel ist vorbei». Das ist der Beginn des revolutionären Prozesses, denn erstmals brach die traditionelle soziale Basis des Regimes direkt und unversöhnlich mit ihr. Dieser Riss wurde bis heute nicht gekittet, im Gegenteil intensivierten sich soziale Kämpfe in den darauffolgenden Jahren immer mehr, bis zu einem Maximum heute. Die IRI steht permanent unter Druck, von Reformen ist keine Rede mehr, der Konsens auf der Straße ist: die IRI muss weg.


Die Jina-Bewegung brachte 2022 sämtliche Milieus zusammen, der Schlüssel dazu war Solidarität. Monatelang wurde ersichtlich, wie stark solch eine landesweite Bewegung sein kann. Der revolutionäre Prozess erreichte seinen Höhepunkt. Doch Revolutionen sind kein lineares Ereignis, und so kam auch die Jina-Bewegung ins Stocken und befindet sich aktuell in einer Phase der Stagnation, der Winter setzte ein, und das Regime schlug brutal zu: Menschenrechtsorganisationen zu Folge sind über 550 Menschen bei den Protesten getötet worden, Tausende verletzt, über 22.000 festgenommen. Die Dunkelziffer dürfte überall höher liegen. Zudem wurden sieben Menschen in Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet.


Das revolutionäre Moment ist also noch nicht erreicht, doch einen Weg zurück gibt es nicht mehr. Zu stark ist der Anti-IRI-Konsens im Land, und zu tief ist der Riss zwischen überaus junger Bevölkerung von durchschnittlich 31,7 Jahren und dem häufig von alten Greisen repräsentierten Staat der Mullahs. Der Generationenkonflikt hat sich in der Jina-Bewegung nur weiter verschärft; es waren vor allem junge Menschen (insbesondere junge Frauen), die diese Proteste antrieben und auch zu einem erheblichen Teil dafür ihr Leben ließen. Die No Future Generation meint es ernst: Freiheit oder Tod.


Der Druck steigt


Die IRI reicht dieser frustrierten und radikalisierten Generation nicht etwa die Hand; das Regime, welches von sich behauptet, es gehe nicht freiwillig und wenn, dann hinterlasse es «verbrannte Erde», nimmt diesen Kampf an und eskaliert ihn; seit November 2022 – noch mitten in der Jina-Bewegung wurden über mehrere Monate über 7000 Mädchen und junge Frauen an 100 Mädchenschulen systematisch mit Giftgasangriffen verletzt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die IRI selbst dahinter steckt. In ihrem kurzfristigen Denken sehen die Machthabenden darin vermutlich eine Racheaktion; Mädchen und junge Frauen symbolisieren den Geist der Jina-Bewegung wie kaum eine andere Gruppe – nun sollen sie bezahlen. Solch ein dramatisches Ereignis wird die Jugend erst recht nicht vergessen.


Doch der Druck auf das Regime nimmt auch von innen zu. Allen voran häuft sich die Kritik an der Regierung Raisis an der katastrophalen ökonomischen Situation im Land. Eine dramatische Inflation von geschätzt bis zu 120 Prozent, nicht gezahlte Löhne und Leistungen, ein Leben unter der Armutsgrenze als Massenphänomen – das sind nur Ausschnitte aus der Situation im Iran 2023, in dem viele Haushalte nicht wissen, ob sie morgen genug zu Essen und ein Dach über dem Kopf haben, während das Regime in Form von Mullahs und Revolutionsgarden immer mehr Reichtum in weniger Hände konzentriert. Ein weiteres Thema, welches sogar innerhalb des Apparats für viel Kritik sorgt, ist die harte Hand der Repression, die nur noch als Selbstzweck wahrgenommen wird. Während der Inhaftierungswelle der Jina-Bewegung häufte sich Kritik von hohen islamischen Gelehrten an der Verurteilung Festgenommener als «Feinde Gottes auf Erden» (darauf steht die Todesstrafe) aufgrund von Banalitäten wie der Errichtung von Straßenbarrikaden. Auch die pietätlose Schikane, Bedrohung, Festnahme und gar Ermordung von Angehörigen von getöteten oder festgenommenen Protestierenden wird aus dem Inneren verurteilt. Genauso wie der fanatische Krieg der Mullahs gegen jegliches tatsächliches oder vermeintliches Aufbegehren gegen die Kopftuchpflicht; in der Provinz Gilan wurden deswegen über 1000 Geschäfte und Gewerbe geschlossen, jüngst wurde deswegen eine Zahnmedizin-Konferenz mit internationalen Gästen abgesagt.


Diese Kritik desillusioniert die Menschen nicht in Bezug auf neuerliche Hoffnungen auf Veränderungen von innen, aber sie motiviert, auch selbst den Druck aufrecht zu erhalten und sich gegen die ersehnte Friedhofsruhe der Mullahs zu stellen. Immer wieder weisen Arbeiter*innen in Protesten und Streiks auf die nicht zu ertragende Lebenssituation hin; insbesondere die Rentner*innen verschiedener Sektoren zeigen sich derzeit gut organisiert und treten regelmäßig im öffentlichen Raum auf. Eine Aktionsform des zivilen Ungehorsams im Alltag treibt die Mullahs, für die das Patriarchat eine zentrale Säule ihrer Herrschaft ist, zur Weißglut: überall im Land zeigen sich Frauen immer wieder ohne das Kopftuch, welches im Iran seit zig Jahren ein umkämpftes Symbol ist und derzeit für die gesamte und vielschichtige Unterdrückung der Frauen als solche steht.


Die politische Alternative sitzt hinter Gittern


Diese Punkte zeigen, warum der Iran sich noch immer im revolutionären Prozess befindet. Dennoch fehlt derzeit etwas, nämlich die Entfaltung einer politischen Alternative. So wichtig und entscheidend ist es, dass der Konsens – die IRI muss weg – nun einen Schritt weiter kommt. Mit politischer Alternative ist nicht gemeint, dass irgendwelche Exilant*innen von Außen eine Möchtegern-Übergangsregierung stellen; das Projekt des selbsternannten und hoch umstrittenen «Kronprinzen» Pahlavi, einen solchen Übergang aus den USA heraus zu orchestrieren und dafür ein Netzwerk zusammenzustellen, ist krachend gescheitert.


Die politische Alternative für den Iran gibt es – sie sitzt in den Gefängnissen des Landes. Sie wird getragen von politischen Gefangenen wie Sepideh Gholian, Narges Mohammadi, Jafar Ebrahimi, Esmail Abdi, Reza Shahabi und vielen Tausenden mehr. Sie sind Arbeiter*innen, Frauenrechtler*innen, Umweltaktivist*innen, Kämpfer*innen für Kinderrechte, Ärzt*innen, Busfahrer*innen, Jurist*innen, Studierende, Kurd*innen, Azeris, Balutschen, Bahais, Muslime, Junge, Alte, Menschen aller Geschlechter. Sie artikulieren sich, etwa durch Protest, wenn sie ihre Münder zunähen, in Hungerstreik treten oder Kopftücher verbrennen. Oder durch Briefe, Video-Statements, Interviews und sogar Bücher.


Im Iran hat sich eine Parole durchgesetzt: «Der Iran ist ein Gefängnis, Evin ist eine Universität». Evin ist das berüchtigste Gefängnis Teherans, hier haben sich Gefangene trotz grausamer Bedingungen inklusive Verweigerung von medizinischer Versorgung, Folter, Vergewaltigung ermächtigt und durchgesetzt, sich bilden, gemeinsam diskutieren und Projekte durchzuführen zu dürfen. Aktionen wie die von Sepideh Gholian, die nach ihrer temporären Freilassung noch vor den Gefängnistoren Parolen gegen Khamenei rief und umgehend wieder eingesperrt wurde, haben eine tiefere Botschaft: ihr könnt uns in den Knast werfen, aber unseren revolutionären Geist brecht ihr nicht. Das ist es, was den Machthabenden Angst einjagt – denn ihr Hauptmittel hinter all der Gewalt, dem Terror und dem Krieg gegen die eigenen Bevölkerung ist es, Angst zu schüren und die Menschen zu brechen.


Das Exil und alle Unterstützer*innen der Revolution im Iran tun gut daran, die Proteste im Land zu beleuchten, ihnen eine Plattform zu bieten und die internationale Aufmerksamkeit immer und immer wieder auf den Iran zu lenken. Wenn die Welt wegschaut, massakrieren die Mullahs. Insbesondere gilt es aber, der politischen Alternative und der demokratischen Zukunft des Landes, also den politischen Gefangenen, eine Stimme und eine Plattform zu geben. Die Übersetzung und Verbreitung ihrer Statements, Diskussionsveranstaltungen und politische Patenschaften sind konkrete Mittel, die Wirkung zeigen und Menschenleben retten können. Für den revolutionären Prozess ist es unabdingbar, dass diese Menschen Gehör finden, denn sie sind die demokratische Alternative, nach der wir uns sehnen.



Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Rosa Luxemburg Stiftung

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