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Mysteriöse Vergiftungen verschärfen Misstrauen gegenüber der Staatsmacht

Wer hinter den Vergiftungen von Schülerinnen steht, werde gnadenlos bestraft. Das versprechen die iranischen Behörden. Sie haben jedoch keine Glaubwürdigkeit mehr bei der Bevölkerung.



Wir bekommen fast täglich neue Meldungen aus dem Iran über weitere Vergiftungen von Schulmädchen", sagt die Frauenaktivistin Fariba Balouch im Gespräch mit der DW. Sie lebt seit drei Jahren in Londoner Exil und fügt hinzu: "Die Eltern sind verzweifelt und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Diese Woche haben sich Eltern aus der Stadt Tschabahar bei uns gemeldet. Es ist beängstigend, dass es nicht aufhört." Die 200.000 Einwohner zählende Hafenstadt Tschabahar am Golf von Oman taucht selten in den Nachrichten auf. Zum ersten Mal wurden jetzt auch dort Vergiftungen von Schülerinnen gemeldet.


"Eigentlich müsste im Land jetzt Vorfreude herrschen. Davon ist aber kaum etwas zu spüren. Alle sind besorgt und wütend", berichtet eine 41-jährige Mutter aus Teheran mit Blick auf das iranische Neujahrfest in weniger als zwei Wochen. Das neue Jahr fängt im Iran mit dem Frühling am 20. März an. Das 13-tägige Neujahrsfest ist das wichtigste Fest im Iran, vergleichbar mit Weihnachten im Westen. Es gibt zwei Wochen Schulferien. "Viele Eltern schicken ihre Kinder schon jetzt nicht mehr zur Schule. Die Direktorin der Grundschule meiner Tochter hat Verständnis für uns. Sie ist selbst Mutter."


Keine Information durch Behörden


In Hintergrundgesprächen mit der DW betonen weitere Eltern, wie gestresst sie unter diesen Umständen seien. Auch weil sie von Behörden keine Informationen über die Substanzen bekommen, mit denen die Schulkinder vergiftet wurden. Laut iranischen Medien wurden bislang mehr als 2500 Vergiftungsfälle an Schulen gemeldet, viele Betroffene mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. 


Im Netz findet man Bilder von Schülerinnen in Notaufnahmen mit erweiterten Pupillen und laufender Nase. Mediziner und Experten im Iran sollen gemahnt worden sein, sich zu diesem Thema nicht äußern. Der Kleriker Mohammad Reza Nourollahi aus der Stadt Qom, wo die ersten mysteriösen Vergiftungen im November 2022 gemeldet wurde, kritisiert das. Im Gespräch mit der "Shia News Agency Shafaqna" Anfag der Woche fordert er die Behörden auf, Fachleuten zu erlauben, darüber zu sprechen: "Lasst die Eltern wissen, was los ist".


Auch Experten im Ausland können keine validen Aussagen zu den Vergiftungsfällen treffen, denn es fehlt an frei zugänglichen Informationen. Das betont auch der deutsche Toxikologe Carsten Schleh auf Nachfrage der DW. Er weist darauf hin, dass in vielen Berichten Schulmädchen von einem faulen Geruch berichtet haben. "Als ich von dem fauligen Geruch gelesen habe, dachte ich sofort an Schwefelwasserstoff. Dies riecht schon in geringen Konzentrationen nach faulen Eiern und kann unter anderem Atembeschwerden und Kopfschmerzen niederschwellig auslösen."


Verbreitung von Angst in der Gesellschaft 


Das sind auch die Symptome, die Betroffene im Gespräch mit staatlichen Medien im Iran schildern. Schleh sieht in Verbindung mit diesen Schilderungen auch einen sogenannten Nocebo-Effekt: "Das heißt: Die Schülerinnen erwarten einen nachteiligen Effekt und erleiden diesen dann auch. Das ist ein selbstverstärkendes System. So hätte man Schwefelwasserstoff als stark riechende Chemikalie, verstärkt durch die Psyche, und könnte so Angst und Schrecken mit relativ geringen Gesundheitsschäden verbreiten. Aber wie gesagt: Das ist pure Spekulation, solange ich nicht mehr Informationen habe." Auf die Frage, wer so eine Chemikalie herstellen könnte, antwortet der Toxikologe: "Grundsätzlich kann man Schwefelwasserstoff relativ einfach im Labor herstellen. Man hat dann zwar ein recht unreines Produkt, aber der Geruch und die ersten Wirkungen sind da."



Die stärkste Wirkung ist momentan die Verbreitung von Angst und Unsicherheit in der Gesellschaft. "Wer dahinter steckt, muss hart bestraft werden", forderte Irans Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei. Er bezeichnete die Taten am Montag als "unverzeihliches Verbrechen". Daraufhin erklärte der iranische Justizchef Mohseni Edschei, dass im Zusammenhang mit den Vergiftungen Verhaftete wegen "Korruption auf Erden" angeklagt werden sollen. Bei einer Verurteilung würde dies die Todesstrafe nach sich ziehen.


Werden Täter geschützt?


Inzwischen meldete die den Revolutionsgarden nahe stehende Nachrichtenagentur Fars die ersten Festnahmen. In fünf Provinzen sollen Verdächtige festgenommen worden sein. Fars berief sich auf den für die Sicherheitskräfte zuständigen Vize-Innenminister Madschid Mirahmadi. Er sprach im Staatsfernsehen von Festnahmen auf Grundlage von "Erkenntnissen der Geheimdienste". Zur Identität der Festgenommenen, den Umständen ihrer Festnahme und ihrer mutmaßlichen Rolle bei den Vergiftungen machte er keine Angaben, sagte aber: "Einige von ihnen waren allerdings keine Feinde Gottes und wurden nach den Verhören und Aufklärungsgesprächen freigelassen."


Für viele Iraner ist diese Aussage ein Beweis dafür, dass die Täter aus religiös konservativen Kreisen kommen. Sie haben gute Verbindungen im Sicherheitsapparat und werden von mächtigen Ajatollahs unterstützt. Seit November 2022 gab es mehr als 3100 Berichte über Vergiftungsfälle. 


Über drei Monate lang haben die Sicherheitsbehörden nur abgewiegelt. Stattdessen wurden Journalisten festgenommen, die über Vergiftungsfälle berichteten. Erst vor einer Woche haben die Behörden zugegeben, dass diese mysteriösen Vergiftungen gezielte Giftanschläge mit dem Ziel sein könnten, Mädchen von der Schulbildung auszuschließen. Diese Woche kam es in mehreren Städten des Landes zu Protesten: Eltern, Angehörige sowie Lehrerinnen und Lehrer gingen auf die Straße. Sie forderten mehr Sicherheit für die Schulkinder und warfen den Behörden vor, nicht ausreichend gegen die Vergiftungen an den Mädchenschulen vorzugehen. Mehrere Teilnehmer wurden festgenommen.


Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welle


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