top of page

Warum es im Iran keine Pro-Palästina-Massendemos gibt




Obwohl die Regierung der Islamischen Republik radikalislamische Gruppen in Palästina offen ebenso wie versteckt unterstützt, unterscheidet sich die öffentliche Meinung im Iran zum jüngsten Nahost-Konflikt von der im arabisch-islamischen Raum. Ein Phänomen, das in den westlichen Medien kaum Beachtung findet. Ein Gastbeitrag von David Parsian.


Der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, gefolgt von den tödlichen Bombenangriffen der israelischen Armee und der Belagerung des Gazastreifens, ist ein neuer trauriger Beweis für die katastrophale Reproduktion von Gewalt im krisengeprägten Nahen Osten. Unabhängig von einer tieferen Analyse des blutigen Konflikts ist die Reaktion der iranischen Öffentlichkeit auf diesen Krieg im Unterschied zu anderen Ländern in der Region ein kontroverses Thema im Iran selbst und unter im Ausland lebenden Iraner*innen.


Warum gibt es im Iran keine nicht-staatliche Massenkundgebungen für Palästina? Wo bleibt die weit verbreitete Sympathie für die Palästinenser*innen, die in vielen arabischen und anderen islamischen Ländern – und mittlerweile auch in europäischen Hauptstädten und sogar in den USA – zu beobachten ist? Und welche innenpolitische Dimension hat der Konflikt im Iran?


Es stellt sich die Frage, warum und wie sich ein großer Teil der iranischen Gesellschaft Schritt für Schritt von den Palästinenser*innen distanzierte und wie die historische öffentliche Sympathie der 1970er und frühen 1980er Jahre nach und nach einer anderen Haltung gewichen ist.


Islamisierung der Solidarität mit Palästinenser*innen


Die positive Stimmung gegenüber den palästinensischen Anliegen erhielt durch die Unterstützung der Palästinenser*innen für Saddam Hussein im Iran-Irak-Krieg erste spürbare Risse. Bei den breiten iranischen Protesten der sogenannten „Grünen Bewegung“ im Jahr 2009 tauchte nicht zufällig der Slogan “Nicht Gaza, nicht Libanon, ich opfere mein Leben für den Iran“ auf. Seitdem wurden von unterschiedlichen Schichten der iranischen Bevölkerung die Ablehnung der finanziellen, militärischen und politischen Unterstützung der Regierung für die Islamisten in palästinensischen Gebieten, Libanon und anderen Ländern sowie ein Ende der Einmischung in regionale Spannungen außerhalb des Irans gefordert, was klar auf einen Wandel der öffentlichen Meinung hinweist.


In den Jahren vor 1979, als die offiziellen Beziehungen zwischen dem Iran und Israel noch nicht so feindselig waren, konnte man in der öffentlichen Meinung Irans mehr oder weniger starke antiisraelische Gefühle erkennen; es gab eine Art natürliche Sympathie für die Palästinenser*innen. Für viele Studierende, Jugendliche, Intellektuelle und Eliten der Zivilgesellschaft war Palästina ein Symbol des nationalen Widerstands und des Kampfes gegen Unterdrückung, Besatzung und Ungerechtigkeit. Die Opposition der 1970er Jahre betrachtete die Palästinenser*innen als ihre natürlichen Verbündeten. Die Wiedereröffnung der palästinensischen Botschaft nach dem Sturz der Regierung Mohammad Reza Schahs markierte einen Wendepunkt im Kräfteverhältnis im Nahen Osten.


In dieser revolutionären Zeit galt das Camp-David-Abkommen zwischen Ägypten und Israel als „Verrat an der palästinensischen Sache“. Die Straßen waren voller Slogans wie „Tod den drei Verderbern Carter, Sadat und Begin“. Die Islamische Republik betrachtete diesen Kompromiss für den Frieden wie Algerien, der Irak und Libyen als eine Abkehr von den palästinensischen Idealen. Auch ein wichtiger Teil der politischen Kräfte und Eliten im Iran stimmte dem zu. Zu dieser Zeit hatte die Palästinafrage einen nationalen und befreienden Aspekt; nur wenige Menschen gaben ihr eine religiöse Note.


Die „islamistische“ Wende in der Palästinafrage begann während des Krieges gegen den Irak mit dem Slogan „Der Weg nach Quds (Jerusalem) führt über Kerbela (eine Stadt im Irak)“; eine Parole, die in erster Linie als Rechtfertigung des Regimes für die hartnäckige und fruchtlose Fortsetzung des blutigen Iran-Irak-Krieges diente.


Die Ernennung des letzten Freitags im Fastenmonat Ramadan zum „Internationalen Jerusalemtag“ bzw. Al-Quds-Tag durch Ayatollah Khomeini war ein weiterer Schritt zur „Islamisierung“ und Vereinnahmung der palästinensischen Frage durch die theokratische Regierung. Auf diese Weise wurden die Palästinafrage und die Zerstörung des „Krebstumors Israel“ Teil der offiziellen „Staatsdoktrin“ des Iran und zu einem Instrument der Regionalpolitik der Islamischen Republik.


Die offensichtliche Feindseligkeit der Regierung gegenüber den Führern der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, die nach Jahren des bewaffneten Kampfes eine friedliche Lösung der Krise suchten, und gleichzeitig die breite und massive Unterstützung von islamistischen Gruppen für den bewaffneten Kampf und die Zerstörung Israels waren das Ergebnis dieser Politik. Aus dieser Zeit ist eine Art paradoxe Konvergenz zwischen Islamisten einerseits und jüdischen Extremisten anderseits im Widerstand gegen einen Frieden durch Verhandlungen erkennbar, die unter anderem zur Entstehung der Hamas (wohlgemerkt mit Unterstützung der israelischen Regierung) und zur Ermordung Rabins durch radikale Israelis geführt hat.


Die Islamische Republik als Akteurin regionaler Spannungen


Der Nahe Osten hat in den letzten vier Jahrzehnten große geopolitische Veränderungen erlebt. Der Bürgerkrieg in Syrien mit Zehntausenden Toten und völlig zerstörten Städten, der Terror durch den extremistischen „Islamischen Staat“ (IS), das Erstarken der Hisbollah im Libanon, der blutige Krieg im Jemen, die Bildung pro-iranischer Milizen im Irak und anderen Ländern veränderten die Atmosphäre in der Region. Nicht zu vergessen sind dabei die militärischen Interventionen des Westens im Irak, in Syrien, in Libyen und in Afghanistan.


Die Islamische Republik Iran nutzte die US-Militärintervention im Irak und den syrischen Bürgerkrieg optimal aus, um ihre Position zu stärken. Der Frieden, der während der Zeit von Sadat und Begin oder sogar während der Ära von Rabin und Arafat greifbar war, ist heute nicht einmal mehr vorstellbar. Seit drei Jahrzehnten besteht die Arbeit der Anti-Friedenskräfte in Israel, Palästina und der gesamten Region darin, Spannungen und Gewalt zu verstärken und Brücken der Beziehungen und Freundschaft zu zerstören.


Die iranische Unterstützung radikaler Gruppierungen in der Region hat aber auch eine wichtige innenpolitische Dimension. Denn auf diese Weise können sich die Hardliner im Iran selbst eine gewisse Legitimation verschaffen. Gerade sie sind es auch, die den Holocaust leugnen und die Zerstörung Israels zum Staatsziel erklären. Die umfangreiche und kostspielige Unterstützung islamistischer Gruppen in der Region wird von der iranischen Bevölkerung allerdings weitgehend kritisch gesehen und prägt ihre Sicht auf die palästinensische Frage.


Die Gaza-Krise im Oktober 2023 zeigt, dass sich ein großer Teil der öffentlichen Meinung im Iran von der Regierung abgekoppelt hat und die Palästinafrage nicht mehr auf die gleiche Weise betrachtet wie zuvor. Wir können von einer Art Bruch mit und sogar Feindseligkeit gegenüber Palästina bei einem großen Teil der Gesellschaft sprechen. Dabei spielen drei grundlegende Phänomene eine entscheidende Rolle.


Der erste Punkt betrifft die Beziehung zwischen der Bevölkerung und der Regierung der Islamischen Republik. Die tiefe Frustration und Wut der Menschen über die Politik und die schlechte Regierungsführung der islamischen Machthaber hat dazu geführt, dass alles, was die Propaganda der Regierung forciert, von der unzufriedenen Bevölkerung automatisch als unerwünscht abgelehnt wird. Für die Iraner*innen, die nach über 40 Jahren in einer tiefgreifenden Desillusionierung gegenüber der Einmischung der Religion in Politik und Regierung leben, gilt diese Ablehnung gegenüber allen islamistischen Kräften, sei es denen im Iran, sei es die Hamas, der Islamische Dschihad, die libanesische Hisbollah bis hin zu ähnlichen Kräften im Irak, in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Im instrumentellen Einsatz von Religion und religiösem Fundamentalismus unterscheiden sie alle sich nicht von der Islamischen Republik und ihrer Ideologie.


Das zweite Problem ist die umfangreiche finanzielle Unterstützung der islamistischen Kräfte durch die iranische Regierung. Konnte sie in der Vergangenheit das kostspielige Eingreifen etwa als „Verteidigung des Heiligtums“ in Syrien rechtfertigen, glauben heute nur noch wenige Menschen an solche Behauptungen. In den Augen der Iraner*innen verschwendet die Islamische Republik die Ressourcen und den Reichtum des Landes für fruchtlose Ambitionen und Abenteuer in der Region, anstatt die weit verbreitete Armut und Fehlentwicklungen im eigenen Land zu bekämpfen. Die Rückständigkeit und wirtschaftliche Isolation Irans werden als direkte Folgen dieser Politik wahrgenommen.


Das dritte Problem ist die Doppelmoral der Islamischen Republik und der Mangel an moralischer und politischer Legitimität dafür, die Rechte und Freiheiten der Menschen eines anderen Landes zu verteidigen. Eine Regierung, die Demokratie und Menschenrechte im eigenen Land nicht respektiert, die grundlegende bürgerliche Freiheiten wie das Recht der Frauen auf die Wahl ihrer Bekleidung nicht anerkennt, soziale und Protestbewegungen brutal unterdrückt, Gegner*innen einsperrt, Dissident*innen auf der Straße zusammenschlägt, erschießt oder blendet, hat keine Legitimität, gegen die Behandlung der Palästinenser durch Israel zu protestieren. Aus diesem Grund werden die Kritik an Israel und der Aufschrei der Regierung angesichts der Vertreibung, Unterdrückung oder des Todes von Palästinenser*innen in den Augen vieler, die nicht zur Regierung gehören, als reine Heuchelei wahrgenommen.


Vor diesem Hintergrund wurden die Palästinenser*innen und die palästinensische Frage in der öffentlichen Meinung des Iran im Laufe der Zeit zu einem Regierungsthema und Propagandafeld der Islamischen Republik, was zumindest einen Teil der deutlich von anderen islamischen Ländern abweichenden Reaktionen breiter Kreise der iranischen Bevölkerung auf die jüngste Krise erklärt. Dies ist jedoch nur ein Teil des sehr komplexen Bildes der Haltung der Iraner*innen gegenüber der Palästinafrage.


Gute Freunde: Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei (re.) und Hamas-Führer Ismail Hanniya


Polarisierung der iranischen Gesellschaft mit blinden Flecken


Die religiösen Kräfte im Iran – sowohl an der Regierungsspitze als auch in der Bevölkerung – sehen sich als natürliche Freunde des palästinensischen Volkes. Diese Haltung wird von den meisten islamischen Regierungen, aber im Unterschied zum Iran dort auch meist von breiten Bevölkerungsschichten geteilt. Die Islamisten im Iran haben sich eine Identität geschaffen, die von Hass, Gewalt, Terror, der Ablehnung von Frieden, einem exklusiven Machtanspruch und einem autoritären Regierungsstil gekennzeichnet ist. Sie setzen auf die Unterdrückung von säkularen Gegner*innen sowie auf sexuelle und religiöse Diskriminierung. Auch die Hamas-Regierung in der Gaza-Region folgt einem derartigen islamistischen Regierungsstil.


Aber auch andere politische Kräfte im Iran, insbesondere die Reformisten und manche dogmatische, antiimperialistische Linke, analysieren die aktuelle Krise zwischen Israel und der Hamas nach demselben Denkmuster. Für sie ist „das zionistische Israel“ der alleinige Schuldige der Krise und der ständige Komplize des „Imperialismus“ und der „Westmächte“ in der Region. Sie blenden die zerstörerische Politik der Hamas, deren antidemokratischen und repressiven Islamismus aus und halten jede Aktion zur Bekämpfung der Besatzungsmacht Israel für legitim.


Blinde Flecken in der Wahrnehmung finden sich auch bei jenen, die aufgrund der Komplizenschaft der Hamas und der Islamischen Republik die Augen vor der Tötung von Kindern und Zivilist*innen in Gaza verschließen, sich in der Nahostkrise – wie viele Europäer und die USA – ganz eindeutig auf die Seite Israels stellen und jeglichen Vergeltungsschlag als legitime Selbstverteidigung und sogar Angriffe auf Krankenhäuser als Terrorbekämpfung sehen.


Die meisten Sympathien für Israel sind im Iran jedoch wie erläutert innenpolitisch durch die Wut gegen das Regime und teilweise auch historisch motiviert, denn schließlich hat der Iran eine lange Tradition einer iranisch-jüdischen Kultur.


Diese Polarisierung prägt auch die Iraner*innen in der internationalen oppositionellen Diaspora. Während traditionelle Linke sich massiv gegen die israelische „Politik der Apartheid“, der Landnahme und der Angriffe auf Gaza aussprechen und mit den Palästinenser*innen aus nicht-religiösen Gründen sympathisieren, äußern sich viele monarchistische Gruppen und der eher „rechte Flügel“ pro-israelisch. Manche gehen dabei so weit, militärische Angriffe seitens Israels oder den USA auf die Islamische Republik Iran zu unterstützen, um „der Schlange den Kopf abzuhacken“.


Opfer und Täter auf beiden Seiten


Die Polarisierung der iranischen Gesellschaft in Bezug auf die Palästinenserfrage spiegelt auch die Polarisierung auf internationaler Ebene wider, die sich beispielsweise im Abstimmungsverhalten über die UN-Resolution zum Konflikt gezeigt hat.


Der Verweis auf die vereinfachte Unterdrücker-Opfer-Dichotomie in der aktuellen Krise schließt die Möglichkeit einer rationalen Bewertung der Ereignisse aus. Die Komplexität dieser alten regionalen Wunde besteht darin, dass die Akteure der Krise auf beiden Seiten gleichzeitig die Rolle von Unterdrückern bzw. Tätern und Opfern spielen.


Dabei wird auch von den Iraner*innen vergessen, dass diejenigen, die auf beiden Seiten der Grenze unter den Trümmern begraben oder getötet werden, Menschen sind, bevor sie Israelis oder Palästinenser sind. Die vernünftigen Kräfte der Gesellschaft – im Iran und im Ausland – sollten über die Wichtigkeit der Verteidigung der Menschenrechte, des Friedens und des Kampfes gegen Gewalt miteinander in Dialog treten. Dieser Dialog sollte das Ziel haben, die Verwicklung der Islamischen Republik in regionale Krisen und den religiösen Fundamentalismus im Iran, in palästinensischen Gebieten und in anderen Ländern des Nahen Ostens bloßzustellen und zu beenden.♦


David Parsian hat in Graz und Wien Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und Orientalistik studiert und arbeitet seit 1992 an der Universität Wien.



Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des IranJournal

bottom of page