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Proteste im Iran: Abschied vom Islam

Die Proteste im Iran zielen auf eine Überwindung der religiös-autoritären Strukturen. Immer mehr Iranerinnen und Iraner verlangen mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Von Kersten Knipp



Revolutionsführer Ali Chamenei: An den Protesten beteiligt sich nur "eine sehr kleine Anzahl von Iranern"

Der Blutzoll der iranischen Protestbewegung ist hoch. 537 Menschen - darunter 48 Frauen und 68 Kinder - haben laut der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights durch die gewalttätigen Reaktionen der staatlichen Sicherheitskräfte auf die Demonstrationen ihr Leben verloren.

Die Zahlen lassen sich zwar nicht unabhängig bestätigen. Aber auch die vielen Berichte von Augenzeugen und insbesondere auf Twitter veröffentlichte Videos bezeugen das brutale Vorgehen der staatlichen Kräfte.

Dass die Protestierenden trotz der hohen Zahlen an Todesopfern weiter ihre Stimme erheben, zeigt, was im Iran für die islamistische Elite inzwischen auf dem Spiel steht - nämlich nichts weniger als das theokratisch fundierte Staatsystem selbst und seine davon geprägten Institutionen.

"Tod für Chamenei"

Wie groß und entschlossen der Widerstand gegen diese Elite ist, musste auch deren führender Kopf, Revolutionsführer Ali Chamenei, zu Beginn des persischen Neujahrsfestes Newroz am 21. März erfahren. „Die Islamische Republik hat bewiesen, dass sie stark ist", erklärte er in einer vom staatlichen Fernsehen live aus der Stadt Maschhad übertragenen Rede. Die öffentlichen Proteste seien „Unruhen" und Folge einer „globalen Verschwörung", inszeniert von den Feinden Irans. An den Protesten beteilige sich „nur eine sehr kleine Anzahl von Iranern". Doch die Antwort der Bürgerinnen und Bürger ließ nicht auf sich warten. "Tod für Chamenei" skandierten sie in Teheran und anderen großen Städten des Landes und riefen erneut zum Sturz der Islamischen Republik auf.

Dass die Protestierenden dem höchsten geistlichen Würdenträger des Landes den Tod wünschen, macht deutlich, wie groß die Distanz zwischen dem von ihm präsentierten System und vielen Bürgerinnen und Bürgern inzwischen ist. Und sie besteht nicht erst seit gestern: Über Jahrzehnte hinweg haben sich das theokratische System und weiter Teile der Bevölkerung so sehr voneinander entfremdet, dass nun auch die Religiosität an sich zur Debatte steht.

Ernüchterung nach mehr als vier Jahrzehnten Islamismus

„Der Islam war im Volk so tief verwurzelt, dass nur eine islamische Revolution diese Wurzeln ausreißen konnte", zitiert die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in ihrem soeben erschienenen Buch „Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat" den iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush.

Die iranische Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur sieht eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern ihres Landes, die sich eine andere Zukunft wünschen.

Diese Aussage ist nur scheinbar paradox: Die real existierende Form jenes Islam, den das Regime dem Land seit seiner Machtergreifung 1979 aufzwang, erscheint vielen Bürgerinnen und Bürgern derart fragwürdig, dass sie bereit sind, sich um einer besseren Zukunft willen von ihm zu trennen.

Die Gründe des Wandels lägen auf der Hand, sagt Amirpur im DW-Interview. "Wenn etwa meine Stirnlocke unter dem Kopftuch heraushängt und das von Sittenwächtern gerügt wird, wenn ich auf der Straße tanzen oder ohne Einwilligung meines Mannes das Sorgerecht für meine Kinder haben will, und wenn das im Namen des Islams angeblich nicht angeht - dann ist es ein relativ kurzer oder sogar natürlicher Schritt für die Menschen zu sagen: Also, wenn das Islam ist, dann will ich lieber eine Gesellschaft ohne Islam."

Dass immer mehr Iranerinnen und Iraner ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Glauben haben, zeigt auch eine Studie der Group for Analyzing and Measuring Attitudes in IRAN (GAMAAN) der Universität Tilburg zu dem Verhältnis der Bevölkerung im Iran zum Islam aus dem Jahr 2020. Demnach gab - statistisch hochgerechnet - rund die Hälfte der Bevölkerung an, sie habe ihre Religion aufgegeben. Demgegenüber hätten 41 Prozent erklärt, ihre religiösen oder nicht-religiösen Ansichten hätten sich im Laufe ihres Lebens nicht wesentlich verändert.

Gelockert habe sich vor allem die religiöse Praxis. So gaben rund 60 Prozent der Befragten an, sie beteten überhaupt nicht, 40 Prozent würden beten, aber nur 27 Prozent folgten dabei konsequent den islamischen Gebetszeiten, der Rest den persönlichen Vorstellungen. 32 Prozent sahen sich als Teil einer gläubigen, aber nicht praktizierenden Familie. Doch nicht einmal drei Prozent gaben an, in einer "ungläubigen" oder "antireligiösen" Familie groß geworden zu sein.

Wachsende Distanz zur Religion


Der größte Widerstand regt sich laut der Studie aber gegen die Verquickung von Staat und Religion. Der überwiegende Teil - 68 Prozent der Bevölkerung – sei der Ansicht, dass religiöse Vorschriften nicht von der staatlichen Gesetzgebung geregelt werden sollten, auch dann nicht, wenn die Gläubigen eine parlamentarische Mehrheit haben. Nur 14 Prozent seien der Meinung, die Gesetze des Staates sollten sich ausnahmslos mit den religiösen Vorschriften decken.

Diese Ergebnisse dokumentieren eine Entwicklung, die eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Gallup aus dem Jahr 2006 aufgezeigt hatte: Ihr zufolge lehnten damals über die Hälfte der Iranerinnen und Iraner - 56 Prozent - die Kontrolle des öffentlichen Lebens durch religiöse Vorgaben ab.

Viele wollen das politische System insgesamt überwinden

Diese Entwicklung treibt auch die derzeitigen Proteste an. Längst gehe es nicht mehr um klein­teilige politische Anliegen wie bei­spiels­weise eine Aufhebung der gewaltsam durch­gesetzten Kleiderordnung oder um ein­zelne Reformvorhaben, schreibt die Politikwissenschaftlerin Azadeh Zamirirad von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Ziel sei vielmehr, die bisherige poli­tische Ordnung in ihrer Gesamtheit abzu­schaffen. Die breite gesellschaftliche Zug­kraft und der Anspruch, einen System­wechsel herbeizuführen, sprächen für einen revo­lutionären Charak­ter der Pro­teste. "Dabei ist mit dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit" ein kollektives Leit­motiv gegeben, das universalistisch und im Kern zukunftsgerichtet ist, selbst wenn sich Ideen für eine konkrete Ausgestaltung einer neuen politischen Ord­nung erst in den An­fängen befinden", so Zamirirad auf der Homepage der SWP.

Die Wucht der Proteste wie auch deren Dauer deuten an, dass derzeit nicht weniger als das kollektive Selbstverständnis der iranischen Gesellschaft auf dem Spiel steht. Das zeige sich auch im Gespräch mit Studierenden und jungen Iranerinnen und Iranern, so Amirpur im DW-Interview. Diese äußerten oft, es sei ihnen egal, was der Islam zu diesem oder jenem Thema sage. "Wenn es bisweilen heißt, Islam und Menschenrechte seien nicht vereinbar, dann entgegnen sie, das spiele für sie keine Rolle, sie wollen trotzdem Demokratie haben und Rechtsstaatlichkeit. Das sind für sie die zentralen Anliegen."


Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welle

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