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„Der Islam könnte zur Quelle von Spiritualität statt Unterdrückung werden“

Nicht nur das Regime, auch die iranische Gesellschaft wendet sich zunehmend vom Islam ab – das Thema von Katajun Amirpur, Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln, in ihrem neuen Buch „Iran ohne Islam“. Im Interview mit iran-revolution.com schildert Katajun Amirpur die Hintergründe der aktuellen Protest-Bewegung, skizziert die Übermacht der Revolutionsgarden, erklärt die Motive für die Abkehr vieler BürgerInnen vom islamischen Glauben hin zum Zoroastrismus, entwirft die Perspektive eines säkularen Irans und gibt einen Ausblick auf die kommenden Monate.



Katajun Amirpur

Wie würden Sie die aktuelle Bewegung im Iran aus wissenschaftlicher wie auch persönlicher Perspektive bewerten?

Aus persönlicher Perspektive bewerte ich die aktuelle Bewegung als eine, die mir sehr viel Hoffnung gibt, die mich tatsächlich denken lässt, dass sich etwas ändern könnte. Das kann ich nicht vorhersagen in Zeiträumen, ob es noch Monate, ob es vielleicht sogar ein, zwei Jahre dauern wird, aber ich bin mir sehr sicher, und deswegen schöpfe ich sehr viel Hoffnung, dass diese Bewegung zum Erfolg führen wird. Aus wissenschaftlicher Perspektive bewerte ich das als eine Bewegung, die insofern neu ist, als sie schichtenübergreifend ist. Wir hatten ja schon viele Protestbewegungen. Manche sagen, dieser Prozess habe 1999 begonnen, als Studierende auf die Straßen gegangen sind. Andere verweisen auf 2009, als die Mittelschicht auf die Straße gegangen ist und gegen eine gefälschte Wahl protestiert hat. Und wieder andere sagen, der wirkliche Beginn sei anzusetzen mit dem Zeitpunkt, als das Regime seine soziale Klientel, sprich die ärmeren Schichten, verloren hat. Und das war 2017/18 bzw. 2019 bei den sogenannten Benzinunruhen oder Brotunruhen. Aber insgesamt sind wir jetzt in einem Stadium angelangt, wo es wirklich schichtenübergreifend ist, wo alle Menschen ihre eigenen Gründe und eigenen Nöte haben, um auf die Straße zu gehen – und das hat natürlich nochmal ein völlig anderes Potenzial.



 

 


In welcher Phase befindet sich der revolutionäre Prozess?

Nun, revolutionäre Prozesse haben ja Ups und Downs, ruhigere und heißere Phasen. Und ich würde sagen, wir sehen jetzt gerade das Ende einer ruhigeren Phase. Es könnte wieder zu einer heißeren Phase kommen. In den letzten Monaten war ja auf den Straßen deutlich weniger los, was natürlich daran lag, dass das Regime zu heftigen Abschreckungsmaßnahmen gegriffen hat. Also zum einen die Präsenz der Revolutionsgarden in Kurdistan und Sistan und Belutschistan, wo es zu den größten Protesten gekommen ist. Dann die Hinrichtungswelle: Es sind ja sehr viele, vor allem junge Männer, unter den dubiosesten, absurdesten Gründen hingerichtet worden, vermeintlich, weil sie „Krieg gegen Gott“ geführt hätten. Und es sind keine Gerichtsverfahren zugelassen worden, keine ordentlichen. Und all diese Maßnahmen – dann auch die Vergiftungen an den Mädchenschulen – haben natürlich viele Menschen sehr, sehr abgeschreckt.

Auf der anderen Seite hat es aber auch dazu geführt, dass das Regime noch einmal mehr an Legitimation verloren hat. Man fragt sich, ob das überhaupt noch möglich ist, denn dieses Regime ist sowieso seit Jahren und Jahrzehnten schon delegitimiert. Aber dieses massive Vorgehen gegen junge Mädchen, gegen junge Menschen, die protestieren gegangen sind, die man zum Teil einfach vom Dach geworfen hat und dann gesagt hat, sie seien an dubiosen Todesursachen gestorben, all das hat nochmal mehr dazu beigetragen, dass sich die Menschen von diesem Regime abwenden.


„Die Bevölkerung ist post-islamistisch“

In Ihrem neuen Buch „Iran ohne Islam“ beschäftigen Sie sich mit der Abkehr der iranischen Bevölkerung vom Glauben. Wie erklären Sie sich diese?

Ja genau, es geht in meinem Buch um die Abkehr der iranischen Bevölkerung, nicht nur vom System, also dem System der Islamischen Republik, sondern eben auch vom Islam an sich, vom Glauben. Ich behaupte, dass das Regime nicht nur der größte Treiber für Säkularisierung war. Das ist etwas, was Soziologen sowieso schon seit Jahren und Jahrzehnten feststellen in Iran, also dass Iran in der Tat – durch den real existierenden Islamismus der letzten 44 Jahre – zu dem ersten System des Post-Islamismus geworden ist, was die Bevölkerung anbelangt. Also die Bevölkerung ist post-islamistisch. Sie ist eben nicht mehr der Auffassung, dass der Islam die Lösung sei („Islam huwa al-Hal“), sondern dass der Islam Teil des Problems sei, wenn nicht gar das Problem überhaupt. Und dann ist es eigentlich auch verständlich, dass man sich vom Islam an sich abkehrt: wenn einem alles verboten wird im Namen des Islams – zum Beispiel die Stirnlocke, die aus dem Kopftuch hervorgucken darf, wie im Falle von Jina Mahsa Amini – und das sogar dann zum Tode führt. Wenn einem verboten wird zu lachen, zu singen, zu tanzen. Wenn man stattdessen mit einem Rechtssystem konfrontiert ist, das einen als Frau zu einer Bürgerin zweiter Klasse degradiert, weil man sich nicht scheiden lassen kann, weil man das Sorgerecht für die Kinder nicht bekommt, weil das Zeugnis vor Gericht nur halb so viel zählt wie das des Mannes. Wenn man nicht ausreisen darf ohne die Erlaubnis des Mannes. Und wenn all das einem erklärt wird mit dem Satz, das sei nun mal so, weil das der reine muhammedanische Islam sei, der ja in Iran verwirklicht wird. So wird es immer formuliert: Islame nabe Mohammadi. Dann kommen die Menschen natürlich ganz schnell auf die Idee zu sagen: Also wenn das der Islam ist, dann doch lieber kein Islam. Das ist nun auch keine Idee, die von mir stammt, das haben ranghohe Politiker schon in den 90er-Jahren festgestellt. Der Bruder des früheren Staatspräsidenten Khatami, Mohammad-Reza Khatami, der damals der Vorsitzende einer der wichtigsten Parteien war, der Islamischen Partizipationspartei, sagte schon Ende der 90er-Jahre, dass die Menschen vor der Religion fliehen. Wir müssten Reformen anbieten, wir müssten etwas ändern in diesem Staat, wir müssten ihnen wieder die Möglichkeit geben, dass sie auch an den Islam glauben können. Diese Reformen hat man versucht, das ist aber nicht möglich gewesen, weil es an den Betonköpfen im System gescheitert ist. Daher gehen die Menschen jetzt zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass von innen überhaupt nichts möglich ist an Reformen – daher jetzt die Generalabsage an die Islamische Republik als Ganze.


„10 Prozent sind in der Lage, 90 Prozent zu unterdrücken, die sich vom Regime abgewendet haben und dieses loswerden wollen“

Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass die Revolutionsgarden inzwischen mächtiger sind als die Mullahs. Wie ist das zu verstehen – seit wann ist diese Wandlung zu beobachten?

Wie mächtig die Revolutionsgarden genau sind, das kann man tatsächlich nicht sagen. Wir haben unglaublich wenig Möglichkeiten zu forschen. Es ist sehr schwierig, da an genaue Befunde heranzukommen. Aber die Revolutionsgarden kontrollieren inzwischen 80 Prozent der iranischen Wirtschaft. Sie haben eine eigene Fluglinie, eine eigene Bahnlinie. Es geht nichts ohne die Revolutionsgarden. Und die Revolutionsgarden sind in der Tat in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch die Sanktionen immer nur noch stärker geworden. Sie sind auch gerade nicht die, die wollen, dass die Sanktionen gegen den Iran wegfallen, weil sie sich in der Schattenwirtschaft bereichern konnten. Es gibt ja in Iran alles zu kaufen. Es ist zwar alles wahnsinnig teuer, aber es gibt alle westlichen Güter. Und das liegt an eben den Revolutionsgarden. Sie werden als „Schmuggelbrüder“ in Iran bezeichnet, weil sie einfach diesen Schmuggel kontrollieren und damit wirtschaftlich überaus mächtig sind. Hinzu kommt ihre große militärische Schlagkraft. Insofern weiß man gar nicht so genau, wer hier wen kontrolliert. Ist es Ali Khamenei, der die Revolutionsgarden kontrolliert und sie als seine Garde hat – oder ist es eher die Garde, die den Revolutionsführer kontrolliert?


Klar ist, dass die beiden, also der Revolutionsführer und die Garden, Hand in Hand so stark sind, dass sie 10 Prozent der Bevölkerung alimentieren und 10 Prozent der Bevölkerung sicherlich hinter ihnen stehen. Und diese 10 Prozent sind durchaus in der Lage, die 90 Prozent zu unterdrücken, die sich vom Regime abgewendet haben und dieses loswerden wollen. Das ist meine Erklärung dafür, warum 90 Prozent gegen das Regime sind und das Regime trotzdem noch da ist. Diese 10 Prozent sind so hoch gerüstet und wirtschaftlich so stark, dass sie in der Lage sind, 90 Prozent zu unterdrücken und zu kontrollieren.


„6,8 Millionen Zoroastrier – das wäre eine immens hohe Zahl“

Laut jüngster Umfragen bezeichnen sich nur noch 30-40% der IranerInnen als Muslime. Wie steht die Mehrheit zum Thema Religion?

Nun, die Menschen bezeichnen sich ja ganz unterschiedlich inzwischen. 30 bis 40 Prozent sagen, sie seien Muslime. Viele sagen, sie seien Zoroastrier. In der Umfrage, auf die Sie sich in der Frage beziehen – das ist eine Umfrage des Gamaan Instituts aus dem Jahr 2020 –, sagen 8 Prozent der 50.000 Befragten, sie seien Zoroastrier, also Anhänger der vorislamischen iranischen Religion. Das wären hochgerechnet auf die Bevölkerung von 85 Millionen um die 6,8 Millionen Zoroastrier – eine immens hohe Zahl. Daneben sagen viele aber auch: Wir haben mit Religion einfach nichts zu tun, weil Religion so korrumpiert worden ist und weil Religion für so viel Schlechtes steht in diesem Land. Und das Mindeste wäre eben für sie, dass man Religion und Staat trennt, um dann vielleicht zu einer persönlichen Religionsauffassung zurückzukommen irgendwann einmal, bei der dann die Religion tatsächlich Inspiration für Künste und Kultur sein kann, was sie in Iran ja war.


Iran und Islam sind untrennbar miteinander verknüpft. Die iranische Literatur ist ohne den Islam überhaupt gar nicht denkbar, und die Iraner sind ein Volk der Literaten, der Produzenten wie der Konsumenten. Und dann könnte Islam aber tatsächlich auch wieder zu einer Quelle von Spiritualität werden. Im Moment ist er mit Sicherheit keine Quelle von Spiritualität, sondern eine Quelle der Unterdrückung. Und deswegen wenden sich die Menschen, wie ich finde, verständlicherweise vom Islam ab.


„Der Zoroastrismus ist in vielerlei Hinsicht ein sehr einfacher Glaube, nicht sehr dogmatisch ausgelegt.“

Wie lässt sich die Hinwendung zum Zoroastrismus mit einer hochmodernen und aufgeklärten Gesellschaft vereinen?

Auch hochmoderne und aufgeklärte Gesellschaften fragen sich ja: Was ist der Sinn des Lebens, und was kommt nach dem Leben? Religion bietet auch in einer hochmodernen Gesellschaft für viele Menschen immer noch eine Antwort darauf – und der Zoroastrismus bietet nicht mal die schlechteste Antwort darauf. Er ist in vielerlei Hinsicht ein sehr einfacher Glaube, nicht sehr dogmatisch ausgelegt. Und mit den drei Grundregeln – gutes Reden, gutes Denken, gutes Handeln – kann man eigentlich recht weit kommen in einem modernen, aufgeklärten Staat. Und Zoroastrismus ist eben nie aus dem Bewusstsein der Iraner verschwunden, obwohl die Menschen seit dem 7. Jahrhundert sukzessive islamisiert worden sind. Der Zoroastrismus hat vor allem durch das iranische Neujahrsfest, das ein zoroastrisches Fest ist, und auch durch andere Feste im Jahr einen sehr großen Sitz im Leben, wie Religionswissenschaftler das nennen. Sehr viele Riten des Zoroastrismus sind sehr, sehr präsent geblieben im Denken der Menschen. Deswegen sehe ich da nicht unbedingt eine Unvereinbarkeit von Religion und einer modernen Gesellschaft. Vielleicht wollen auch gerade Menschen in modernen Gesellschaften die Frage beantwortet haben: Ist das denn nun alles, was wir hier haben und sehen?


Sie haben eben die drei Grundwerte des Zoroastrismus genannt: Rede gut, denke gut, handle gut. Lässt sich das als Antwort der Menschen auf das Islamische Regime werten?

Ja, absolut, denn genau das passiert nicht im islamischen Regime, weder wird gut gehandelt, noch geredet, noch gedacht. Und es ist vor allem auch die Antwort auf das Ur-Iranische, das immer überleben wird. Dieses Ur-Iranische – das ist ja der Kampf gegen das Böse, der Kampf gegen die Dunkelheit – ist sehr stark im zoroastrischen Glauben verankert. Und die jetzige Periode wird als eine Periode der Dunkelheit gesehen. Aber das ewig Gute, das wird siegen gegen diese Dunkelheit. Im Moment wird oft argumentiert, dass der Islam ja nun mal auch etwas Aufgezwungenes sei. Wir seien nun mal Iraner, während der Islam etwas sei, was von den Arabern komme. Deswegen müsse sowohl das Regime, was sich aus dem Islam speist, wie auch der Islam selbst weg hier. Das ist eine Argumentationslinie, die man vielfach hört, die aber unsinnig ist. Der Islam ist natürlich völlig verwurzelt seit Jahrhunderten in diesem Land, in dieser Bevölkerung. Aber auch das sehe ich wiederum als eine radikale Aussage gegenüber einem radikalen Regime, das die Menschen unterdrückt.


„Ein säkularer Iran wäre eine völlig normale Demokratie, wie wir sie auch aus unseren Breiten kennen.“

Wie könnte ein säkularer Iran Ihrer Meinung nach ohne den Islam als Staatsreligion aussehen?

Ein säkularer Iran wäre eine völlig normale Demokratie, wie wir sie auch aus unseren Breiten kennen. Jeder Mensch hätte das Recht auf seine eigene Religionsauffassung und Ausübung. Und es würde vor allem das Recht auf Selbstbestimmung den Menschen gegeben. Das ist ja das, warum die Menschen auf die Straße gehen. Wenn sie das Kopftuch verbrennen, dann steht das Kopftuch für die Verweigerung des Rechts auf Selbstbestimmung. Und dieses Recht auf Selbstbestimmung bezieht sich eben nicht nur auf die Kleidung. Es bezieht sich auch darauf, dass Angehörige einer sprachlichen Minderheit – und das sind rund 50 Prozent der iranischen Bevölkerung, die Kurden, die Belutschen, die die Araber, die Turkmenen, die Azaris – ihre Muttersprache in der Schule lernen dürfen. Dass sie als Angehörige einer sexuellen Minderheit ihre sexuelle Orientierung frei ausleben dürfen. Dass die religiösen Minderheiten – also die Juden, die Christen und die Zoroastrier – ihre Religion vollkommen gleichberechtigt ausleben dürfen, dass die Bahá'ís ihre Religion überhaupt anerkannt bekommen, denn sie gelten überhaupt nicht als religiöse Gemeinschaft, sondern als Sekte, als politische Sekte.


Also all das sind ja Dinge, die mit Selbstbestimmung einhergehen, und dafür kämpfen die Menschen. Deswegen ist das Kopftuch auch so unglaublich symbolträchtig, weil es dafür steht, dass den Menschen dieses Recht verweigert wird. Und in einem säkularen Iran, in einem säkularen Iran meiner Utopie, wären diese Rechte auf Selbstbestimmung gewahrt.


Wie wird sich die Situation in den folgenden Monaten entwickeln?

Das ist unglaublich schwer zu sagen. Ich glaube, die Revolutionsgarden haben noch nicht mal angefangen zurückzuschlagen. Sie haben da noch sehr, sehr viel mehr aufzubieten. Und sie werden das auch aufbieten, weil sie sehr viel zu befürchten haben in einem demokratischen Iran. Im Zweifel werden sie die Rache der Bevölkerung zu spüren bekommen, die sie jahrzehntelang unterdrückt haben. Und deswegen werden sie noch lange mit dem Rücken an der Wand kämpfen. Aber auf der anderen Seite sehe ich auch, dass die Menschen nicht mehr nach Hause gehen im übertragenen Sinne, dass sie sich nicht mehr einengen lassen, einnorden lassen vom Regime, sondern dass diese Form von Protesten immer weitergehen wird. Und dementsprechend ist meine Prognose durchaus positiv. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der nächste Fall wie der von Jina Mahsa Amini nur um die Ecke lauert – und dann wird es wieder zu solchen großen Eruptionen kommen.





Katajun Amirpur: Iran ohne Islam. ISBN 978-3-406-80306-2. Hardcover 25,00 € | e-Book 18,99 € tre. Weitere Infos

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