Das Gesamtvolumen des Geschäfts mit der Internetzensur hat im Iran schwindelerregende Dimensionen angenommen. Darunter leiden die einfachen Menschen, die in einer rechtsfreien Zone nicht selten betrogen werden.
Von Iman Aslani*
Vierzig- bis fünfzigtausend Milliarden Toman pro Jahr; umgerechnet bis zu knapp einer Milliarde Euro: So groß schätzte der iranische Parlamentsabgeordnete Jalal Rashidi Kouchi Ende Mai das Gesamtvolumen eines Geschäfts ein, das im Iran eigentlich gar nicht existieren darf. Es geht um den Verkauf von Zensurumgehungssoftwares. Und das in einem Land, dessen Regime mit allen Mitteln den Zugang zum Internet zu kontrollieren versucht und regelmäßig Dienste und Seiten sperrt. Das einzige Ergebnis der Internet-Zensur sei ein lukratives Geschäft, bei dem sich der Verkauf von Zensurumgehungssoftwares im Iran innerhalb von fünf Jahren verzehnfacht habe, so Rashidi Kouchis Resümee.
Unabhängige Experten bestätigen dies. Durch das Sperren ausländischer Plattformen und Internetdienste wolle das iranische Regime sowohl den Datenschutz der Nutzer:innen gewährleisten als auch inländische Anbieter unterstützen, argumentiert dagegen die Islamische Republik. Unabhängige Statistiken zeigen jedoch, dass die Nutzer:innen durch die staatlichen Zensurmaßnahmen nicht zu inländischen Anbietern wechseln – und das nicht nur aus qualitativen Gründen -, sondern ironischerweise aus Sorge um ihre Privatsphäre und Identität und Angst vor staatlichen Kontrollen. Sie geben lieber Geld aus, um sich den Zugang zu beliebten Diensten wie WhatsApp, Instagram, Telegram oder YouTube zu verschaffen. Je schärfer die Kontrollmaßnahmen werden, desto größer wird dadurch das Geschäft mit den Zensurumgehungstools.
Finanzieller Aufwand ist allerdings nicht die einzige Last, die die Internetnutzer:innen im Iran tragen müssen. Laut Angaben von Podro, einem iranischen Dienstleister im Bereich Online-Shops, ist die Zahl solcher Geschäfte auf Instagram von 630.000 im Sommer 2022 auf 220.000 im November desselben Jahres zurückgegangen. Die Zahlen beziehen sich auf einen Zeitraum, in dem das iranische Regime Instagram, das letzte frei zugängliche Soziale Netzwerk, gesperrt hat, um die landesweiten Proteste nach dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 zu kontrollieren. Die iranischen Online-Shops auf Instagram sind zum größten Teil private Kleingeschäfte – besonders beliebt bei alleinerziehenden Müttern. Seit der Sperrung der Social-Media-Plattform ist der Umsatz der Onlineshops auf Instagram laut Podro von 120 Milliarden Toman auf 17 Milliarden Toman eingebrochen. Ein ähnlich starker Rückgang wurde 2018 beobachtet, als der beliebte Messengerdienst Telegram gesperrt wurde. Auch auf Telegram liefen Tausende von Onlineshops.
„Eltern zensieren, Sohn profitiert“
Die Zahl der Onlineshops auf Instagram erholt sich jedoch wieder. Im Juni 2023 waren es mehr als 450.000 – Tendenz steigend. Auch die Zahl der Telegramnutzer:innen hat sich erhöht, insbesondere dank des Verkaufs von Zensurumgehungssoftwares.
Zahlreiche iranische Online-Medien veröffentlichen fast wöchentlich die Fotos der „beliebtesten sozialen Netzwerken im Iran“
Aber wer kann seit Jahren solch ein lukratives illegales Geschäft ungestört führen, ohne den iranischen Behörden aufzufallen? Experten sprechen von „mafiösen Strukturen“. Bereits 2019 stellte der damalige Kommunikationsminister Mohammad-Javad Azari-Jahromi im iranischen Parlament die rhetorische Frage: „Wie kann man nicht herausfinden, wer mit Zensurumgehungstools Geschäfte macht? Kann man diese Mafia wirklich nicht auffliegen lassen?“ Auch der Parlamentarier Rashidi Kouchi hat Mitte Mai in seinem Interview mit dem iranischen Nachrichtenportal Asriran betont, dass dieses Geschäft „nur in den Händen von besonderen Personen liegen kann und die einfachen Menschen keinen Zugang dazu haben können“.
Laut iranischen Medien stellt der Sohn von Ensiyeh Khazali ein prominentes Beispiel dar. Khazali ist Vizepräsidentin der Islamischen Republik für Frauen- und Familienangelegenheiten und gehört politisch und ideologisch zum ultrakonservativen Lager – jenem Lager, das einen freien Lebensstil im Westen als dekadent und entartet ansieht und verabscheut und sich für mehr Zensur und Indoktrinierung einsetzt. Khazalis Ehemann Mohammadreza Rezazadeh gehört zum gleichen politischen Lager und pflegt enge Beziehungen zur Regierung Raisi. Im September 2022 wurde berichtet, dass der gemeinsame Sohn des Ehepaars in Kanada lebt. Die größere Überraschung war allerdings, dass er Medienberichte zufolge dort eine Softwarefirma gegründet hat und unter anderem Zensurumgehungssoftwares im Iran anbietet.
Vizepräsidentin Khazali bestritt die Vorwürfe. Ihr Sohn habe keine kanadische Staatsangehörigkeit und befinde sich auf einer beruflichen Reise, ließ ihr Büro mitteilen. Die von ihm entwickelten Softwares zielten auf internationales Klientel ab und fänden bei der Zensurumgehung keine Verwendung.
Mehdi Khazali, ein Bruder der Vizepräsidentin, der als politischer Aktivist jahrelang im Gefängnis saß, bestätigte aber kurz darauf, dass sein Neffe doch in Kanada eine Firma besitze und Zensurumgehungstools anbiete. Ein Sohn und eine Tochter seiner anderen Schwester, Kobra Khazali, lebten ebenso seit Jahren in den USA. Kobra Khazali ist ein ultrakonservatives Mitglied des Hohen Rats der Kulturrevolution der Islamischen Republik, das sich unter anderem für den hoch umstrittenen Plan einer Abschaffung der „obligatorischen“ Filteruntersuchungen während der Schwangerschaft stark macht.
Kurz vor der Bekanntmachung der Wohnorte der Angehörigen Khazalis hatte der iranische Präsident Ebrahim Raisi betont, dass Regierungsvertreter, deren Kinder auswanderten, die Regierung verlassen sollen. Im Falle der Vizepräsidentin ignorierte die iranische Regierung diese Forderung.
Verfehlte Ziele, schutzlose Nutzer:innen
Das sogenannte „Nationale Netzwerk der Informationen“, das letzten Endes ein „reines“, („halales“) Internet herbeiführen soll, gehört zu den ambitioniertesten Ziele des islamischen Regimes im Iran – auch wenn das Projekt mittlerweile unter der Bezeichnung „Schutzplan für das Internet“ seinen negativen Ruf loszuwerden versucht.
Einer der größten Verfechter dieses Vorhabens ist das religiöse Oberhaupt der Islamischen Republik, Ali Khamenei. Er kritisiert seit Jahren die „Schlamperei“ im Internet. Aktivisten:innen und Experten:innen warnen vor allem vor totaler Kontrolle. Für die Entwicklung von einheimischen Diensten, Apps und Suchmaschinen werden seit Jahren Unmengen von Geldern bereitgestellt. Der gewünschte Erfolg bleibt trotz massiver Aufwendungen bislang aus.
Im vergangenen Mai räumte der Generalsekretär einer konservativen Organisation und Befürworter der Zensurpolitik des Regimes in einem Talkshow im staatlichen Fernsehen ein, dass 200 Milliarden Toman (ca. vier Millionen Euro) für die Sperrung von Instagram durch eine einzige Aktualisierung des Dienstes verpufft seien.
Gleichzeitig müssen Nutzer:innen im Iran auf einem illegalen Markt oft aussichtslos ihre Rechte durchboxen. Nicht selten berichten sie in den Sozialen Netzwerken, dass sie in Foren und Chatrooms Zensurumgehungstools gekauft haben, die entweder nicht funktionierten oder früher als versprochen ausliefen.♦
*Iman Aslani ist ein Pseudonym unseres Autors. Er schreibt unter anderen Namen für andere Medien.
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des IranJournal
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