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Eine feministische Revolution – Hoffnungen auf eine freiheitlich-demokratische Wende im Iran

Von Norbert Reichel


„‚It is a truth universally acknowledged that a Muslim man, regardless of his fortune, must be in want of a nine-year-old virgin wife.’ So declared Yassi in that special tone of hers, deadpan and mildly ironic, which on rare occasions, and this was one of them, bordered burlesque.” (Azar Nafisi, Reading Lolita in Tehran – A Memoir in Books, London 2003)


Es war eine der ersten Maßnahmen des Ajatollah Chomeini, als er die Führung des Iran im Jahr 1979 übernahm, das Heiratsalter von Mädchen auf neun Jahre herabzusetzen. Das betrifft auch die Strafmündigkeit: Mädchen sind ab dem neunten, Jungen erst ab dem 15. Lebensjahr strafmündig. Azar Nafasi war Literaturwissenschaftlerin, die mit ihren Studentinnen in ihrer Privatwohnung Romane las, die man*frau im Iran nicht lesen sollten. Die zitierten Sätze sind der Anfang des Kapitels über Jane Austen und parodieren den Anfang von „Pride and Prejudice“. Das ist nicht ihre einzige Parallelisierung englischer und amerikanischer Literatur mit der iranischen Wirklichkeit: „Humbert, like most dictators, was interested only in his own vision of other people. He had created the Lolita he desired, and would not budge from that image. I reminded them of Humbert’s statement that he wished to stop time and keep Lolita forever on ‘an island of entranced time,’ a task undertaken only by Gods and poets.”





Das Buch von Azar Nafisi wurde in 32 Sprachen übersetzt! Die deutsche Übersetzung erschien 2003 bei der Deutschen Verlagsanstalt. Vielleicht vermochten die Künste, die Literatur, der Film, das Theater, Dichter*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Wissenschaftler*innen den Nährboden zu schaffen, auf dem die Rebellion gegen das Regime der Mullahs gedieh und gedeiht. Es ist die Rebellion gegen ein diktatorisches Regime, das eine Weltreligion für seine Zwecke instrumentalisiert. Die Revolte der Frauen im Iran und iranischer Frauen im Exil, deren Zeug*innen wir gerade werden, ist eine feministische Revolution gegen ein zutiefst patriarchalisches System. Und sie erfährt Unterstützung von Männern, inklusive von Bazaaris in Teheran. Hoffentlich bleibt das unterstützende Interesse im Ausland erhalten. Und hoffentlich führt diese vielstimmige Bewegung zum Ziel: weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen im geschundenen Land.


Deutsches Schweigen


Kameras sind wählerisch: viele Ereignisse, Unruhen und Aufstände zeigen sie uns erst, wenn sie bei uns das Gefühl vermuten, dass unser Nordhalbkugelwohlstand bedroht sein könnte. Es muss schon etwas passieren, damit in Deutschland alle merken, dass es auf der Welt Diktatoren und ihre Diktaturen gibt und was es heißt, in einer solchen zu leben. Pünktlich zur Fußballweltmeisterschaft fällt einigen ein, dass Qatar alles andere ist als ein demokratisches Land. Immerhin schaffte es die deutsche Innenministerin, von der qatarischen Regierung die Zusicherung zu erhalten, dass queere Menschen aus Deutschland gefahrlos ein- und auch wieder ausreisen können. Ob sie etwas für queere Menschen in Qatar erreicht hatte, wurde nicht berichtet. In Qatar gibt es allerdings – zumindest zurzeit – keine Unruhen, keine protestierende Bevölkerung, sodass sich auch die deutschen Proteste in Grenzen halten.


Zurzeit, im Herbst 2022, blickt die Welt auf den Iran, der seit nunmehr 43 Jahren eine der übelsten Diktaturen ist – sofern man das Wort „übel“ in Bezug auf eine Diktatur überhaupt steigern kann. Dieses Land ist eine Diktatur, die Menschen, die sich nicht in das System des Landes fügen – das sich seit 1979 „Islamische Republik Iran“ nennt – einsperrt, foltert und ermordet. Den Revoltierenden wird vorgeworfen, einen „Krieg gegen Gott“ zu führen. Entsprechend drakonische Strafen sind zu erwarten, auch Todesurteile. Vielleicht ist es aber auch gar nicht das Land, sondern nur die iranische Nomenklatura (die Mullahs, wie sie sich nennen) die sich selbst die Definitionsmacht zuschreiben, was die Menschen des Landes und möglichst auch alle außerhalb des Landes für „islamisch“ halten sollen. So ist das oft genug in Diktaturen.


Und nun sind es die Frauen, die dafür gesorgt haben, dass das Unrechtsregime der greisen Mullahs in die Weltpresse kommt. Aber regt das uns wirklich auf? Was tun wir dagegen? Reicht es, sich auch in Deutschland öffentlich die Haare abzurasieren? Wohl ist das ein Zeichen, das im Iran von den Protestierenden durchaus wahrgenommen wird. Aber ändert eine solche Geste etwas über den Augenblick der Aufmerksamkeit hinaus? Oder ist es wieder nur einmal die Community der Exil-Iraner*innen, so wie es oft genug die Community der Exilierten aus welchem Land auch immer ist, der wir es überlassen, sich auf Demonstrationen zu treffen und ihren Wunsch nach Demokratie und Freiheit zu äußern, spätestens dann, wenn unsere Aufmerksamkeit sich wieder anderen Themen zuwendet?


Was ist beispielsweise mit der Unterdrückung der Uiguren in China, was mit der Unterdrückung der Rohingya in Myanmar, was mit der Schikanierung und Verhaftung von Oppositionellen, Kurd*innen und Alevit*innen in der Türkei, was geschieht in El Salvador, wo eine*r von 100 Einwohner*innen im Gefängnis sitzt, darunter aufgrund der rigiden Abtreibungsgesetzgebung Frauen, die ohne eigenes Zutun eine Fehlgeburt hatten? Oder was geschieht in Ägypten, dem Gastgeber der COP 27? Was ist mit Alaa Abd el-Fattah und all den anderen Inhaftierten, darunter engagierte Oppositionelle ebenso wie die Influencerinnen Al-Adham, Hanin Hussam und Manar Sami, die wegen „Sittenlosigkeit und Ausschweifungen“ und der „Verletzung von Familienwerten“ zu Haftstrafen verurteilt wurden? Sie hatten Tanzvideos gezeigt, trugen offene Haare, Lippenstift und lange Fingernägel.


Und in Deutschland und in den anderen „westlichen“ Ländern? Vieles wird beschwiegen, vieles wird verschwiegen. Die Reaktion auf die Morde und Verhaftungen im Iran, auf die Demonstrationen und Proteste wirkt verhalten, selbst bei denjenigen, von denen eigentlich anzunehmen wäre, dass sie die ersten wären, die sich für Menschenrechte einsetzen. Naomi Klein hat in der Novemberausgabe 2022 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vermerkt, „dass bedeutende grüne Gruppen bisher schweigen“. Und nicht nur diese: die politische Öffentlichkeit, die Regierungen der Staaten, die sich als liberale und demokratische Rechtsstaaten verstehen und in ihren Sonntagsreden für universell geltende Menschenrechte einsetzen, sie alle haben offenbar vergessen, wie die Unruhen, die sie als „Arabischer Frühling“ oder als „Grüne Revolte“ bejubelten, niedergeschlagen wurden und wie der Iran in der Vergangenheit mit Demonstrant*innen umging. Sicherlich sprechen viele davon, dass jetzt, endlich, im Iran der Terror der Revolutionsgarden und anderer Akteure des Staates ein Ende fände, aber sollte das erfolgreiche Vorgehen der iranischen Staatsmacht in der Vergangenheit nicht zur Vorsicht mahnen? Ob eine Revolution im Iran gelingt, hängt von vielen Faktoren ab, die wir allerdings durchaus beeinflussen könnten.


Navid Kermani beklagt das deutsche Schweigen zu den aktuellen Ereignissen im Iran in einem engagierten und lesenswerten Plädoyer, das die ZEIT am 20. Oktober 2022 veröffentlichte: „Aber in Deutschland zu sein fühlt sich erst recht falsch an, hier, wo kaum jemand um den Iran bekümmert zu sein scheint. Nicht einmal im Kulturbetrieb, wo sonst resolut für Geschlechtergerechtigkeit und gegen jedwede Diskriminierung gestritten wird, hört man etwas zu den Protesten im Iran: keine Theater, die ihr Programm ändern, ausschließlich Autoren mit iranischem Hintergrund, die die Bundesregierung für ihre Iranpolitik anklagen, keine Kinos, die an die verhafteten Berlinale-Gewinner im Iran erinnern.“ Navid Kermani nennt ausdrücklich die Namen Mohammad Rasulof und Jafar Panahi. Die Anwältin Nasrin Sotudeh, die in Panahis Film „Taxi Teheran“ mitwirkte und 2020 den Alternativen Nobelpreis erhielt, wurde vor Kurzem zu 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt.


Eine*r der wenigen, die von Anfang an und konsequent diese und andere Missachtungen – eigentlich ein viel zu schwacher Begriff für das, was geschieht – der Menschenrechte anprangerten, war Volker Beck. Mitunter finden wir in den deutschen Zeitungen Berichte von Augenzeug*innen, Beteiligten, so beispielsweise am 19. Oktober in ze.tt die Tagebuchnotizen von Omid Rezaae, die über die Inhaftierung ihres Freundes spricht und darüber, wie sie zu Hause versucht, Verhörsituationen zu simulieren. „Ich habe die letzten 24 Stunden damit verbracht, mir anzuhören, wie mein Freund, meine Liebe gefoltert wurde.“


Immerhin gab es eine Demonstration von 80.000 Menschen in Berlin, aber ob diese Demonstration auch eine Änderung der Politik der Bundesregierung bewirkt, bleibt abzuwarten. Gilda Sahebi sprach in einem WDR-Interview von „Nischen“ und „Hoffnung.“ Zumindest ist die Solidarität innerhalb des Iran sowie bei und von Exil-Iraner*innen nicht mehr zu übersehen. Omid Rezaae in ihrem Tagebuch: „Zum ersten Mal in unserem Leben hassen wir unser Land nicht – sondern sind stolz. Stolz auf die Menschen, die protestieren, trotz all der Gewalt, der Brutalität, die der Staat ausübt. Wie prachtvoll es ist, dass dieses Volk noch protestiert. Den heutigen Tag würde ich mit zwei Wörtern beschreiben: Leid und Ruhm.“


Was bedeutet es, wenn in der Berichterstattung von „Aufständen“ die Rede ist oder nur von „Demonstrationen“? Und was ist mit Kopftüchern? Kopftücher? Etwa ein reines Frauending? Navid Kermani erhielt selbst bei den Grünen keine Resonanz, sein Plädoyer endet verbittert: „In Deutschland wird das keine Party stören, solange die Frauenquote stimmt.“ Diese Verbitterung, dieser Ton ist durchaus die Folge jahre-, jahrzehntelanger Ignoranz.


Der „westliche“ Blick – deutsches Appeasement und politisches Kalkül


Im Verlag Hentrich & Hentrich erschien im Jahr 2017 der von Stephan Grigat herausgegebene Band „Iran, Israel, Deutschland“, Untertitel: „Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm“. Der Band ist meines Erachtens das Beste, was zurzeit zur denkwürdigen Dreiecksbeziehung zwischen Iran, Israel und Deutschland auf dem Büchermarkt zu finden ist. Er beruht auf einer Tagung, die im Januar 2017 im DGB-Haus in Berlin-Schöneberg stattfand. Das Geleitwort schrieb Julius H. Schoeps. Neben dem Herausgeber äußerten sich in der Tagung zwölf Autor*innen, einige mit iranischer Biographie, andere mit Erfahrungen in der Forschung zum Iran. Das Buch präsentiert die Beiträge in drei Teilen, den ersten Teil mit der Überschrift „Iran & Islam“, der zweite mit dem Titel „Antisemitismus & Israel“, der dritte mit „Atomdeal & Außenpolitik“.


Wichtig bei der Lektüre des Buches ist der Hinweis, dass Donald J. Trump am 6. Januar 2016 sein Amt als US-amerikanischer Präsident angetreten hatte, die Auswirkungen der von ihm im Mai 2018 verkündeten Kündigung des Atomabkommens noch nicht bekannt waren. Auch der Abschluss der sogenannten „Abraham-Abkommen“ Israels mit mehreren arabischen Staaten, die noch zur Zeit des US-Präsidenten Trump und eines israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vorbereitet und unterzeichnet wurden, war noch nicht absehbar. Wie es nach den Wahlen vom November 2022 in Israel und in den USA weitergeht, bleibt abzuwarten. An der Absicht der iranischen Nomenklatura, Israel zu vernichten, hat sich nichts verändert.


Stephan Grigat nennt das Ziel des Buches: „Der vorliegende Band fragt nach den besonderen Beziehungen, die Deutschland als Rechtsnachfolger des ‚Dritten Reiches‘ zur ‚Islamischen Republik Iran‘ (IRI) einerseits und zum jüdischen Staat andererseits unterhält und erhebt Einspruch gegen die gängige, verharmlosende Darstellung des iranischen Regimes.“ Zusammenfassend ließe sich sagen, das Urteil der Autor*innen des Buches über die deutsche Iran-Politik seit 1979 ist vernichtend, die Widersprüche zu den allfälligen Bekenntnissen beschworener Solidarität mit Israel sind unübersehbar.


Wie passt zusammen, dass in Deutschland die Sicherheit Israels zur Staatsraison erklärt wird, aber alle israelischen Sorgen vor einer nuklearen Bewaffnung des Iran in den Wind geschlagen werden? Was sollten wir daraus lernen, dass mit Abschluss des Nuklearabkommens alle Beteiligten einen Erfolg feierten außer Israel? Und das war in Israel, was nicht oft vorkommt, Konsens zwischen den Parteien! Es brauchte nicht erst das erratische Vorgehen eines Donald Trump, um die wahren iranischen Absichten zu entschleiern. Wer hinschauen wollte, hätte gesehen, dass das Abkommen den Weg zur Nuklearbewaffung des Iran verzögerte, nicht jedoch beendete.


Die deutsche Seite pflegte gegenüber dem Iran das, was sie auch gegenüber anderen Staaten gerne pflegt: Appeasement. Mehrere Beiträge dokumentieren die Folgen, so Andreas Benl vom Mideast Freedom Forum Berlin: „Die katastrophalen Konsequenzen des Iran-Appeasements der letzten Jahre, der Krieg in Syrien und der Aufstieg des ‚Islamischen Staates‘ haben zu einer neuen Situation geführt. Vom Westen im Stich gelassen, stehen die Dinge nicht gut für Demokraten und wirkliche Moderate in der Region, um es milde auszudrücken“. Ähnlich Gerhard Scheit, einer der Herausgeber*innen von „sans phrase – Zeitschrift für Ideologiekritik“: „Je mehr das Appeasement im Westen sich durchsetzt, desto mehr gerät Israel in eine Isolation, als sollte nur noch dieser Staat, dessen Entstehung eine Konsequenz aus der Vernichtung der Juden war, einen Begriff davon geben, was politische Vernunft im Angesicht dieses neuen Behemoth, sein muss.“ Ein sich isoliert fühlendes Israel wählt entsprechend. Möglicherweise finden wir hier sogar eine Erklärung für das Wahlergebnis vom 2. November 2022.


Das sind klare Worte, aber die Beiträge liefern auch die Belege, die hier nicht alle genannt werden können. Wer mehr wissen möchte, lese das Buch. Ich beschränke mich auf drei Beispiele. Das erste nennt Andreas Benl: „Als Höhe- und Scheitelpunkt eines schließlich zum staatlichen Programm gewordenen Kulturrelativismus kann Barack Obamas Kairoer Rede vom Juni 2009 gelten. Dort beklagte er Kopftuchverbote, aber nicht den Zwang zum Kopftuch, strich die Religionsfreiheit hervor, aber nirgends das Recht darauf, von Religion in Frieden gelassen zu werden. Außerdem definierte er als Hauptprobleme der sogenannten Islamischen Welt amerikanische Interventionen und israelische Siedlungen.“


Das zweite Beispiel wird in mehreren Texten genannt. Es betrifft den damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seinen Kollegen im Wirtschaftsministerium Sigmar Gabriel. Dieser flog wenige Tage nach dem Wiener Atomabkommen in den Iran, begleitet von einer ansehnlichen Delegation von Vertretern der deutschen Wirtschaft und Wissenschaft. „Nahezu alle Firmen, die mit Gabriel zu der Holocaustleugner-Diktatur in den Iran gereist sind, haben schon während des Nationalsozialismus beste Geschäfte gemacht (…).“ Matthias Küntzel, Autor u.a. von „Islamischer Antisemitismus und deutsche Politik: Heimliches Einverständnis“ (das Buch erschien 2007), berichtet von einer Anfrage Volker Becks vor dem Abschluss des Atomabkommens im Deutschen Bundestag. Volker Beck ist seit 2022 Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Er fragte nach den Kriterien der Bundesregierung dafür, ‚dass es ein hinreichender oder guter Deal ist?‘ Außenminister Steinmeier verweigerte die Antwort und plädierte dafür, über derartige Kriterien, ‚nicht öffentlich (zu) diskutieren.‘“ (Protokoll der 90. Sitzung der 18. Legislaturperiode vom 4. März 2015, Seiten 8539f.) Es lohnt sich, in das Protokoll der besagten Sitzung hineinzuschauen. Frank-Walter Steinmeier führte ferner aus, hinter der Frage von Volker Beck sehe er den „Vorwurf, (…) dass irgendjemand bereit wäre, einen schlechten Deal abzuschließen. Deshalb sage ich auch in öffentlichen Reden in Israel immer: Es wird keinen guten und keinen schlechten Deal geben, es wird nur ein Verhandlungsergebnis geben, das ausschließt, dass sich der Iran in den Besitz von Atomwaffen bringen kann.“


Die an dem Band „Iran – Israel – Deutschland“ beteiligten Autor*innen belegen, wie belastbar die Antwort von Frank-Walter Steinmeier war: die deutsche Seite bremste systematisch. Offenbar waren und sind die wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran wichtiger als demokratische Grundwerte und Menschenrechte, der Schutz Israels und die immer wieder beschworene deutsche Staatsraison. Der Bundespräsident gratulierte der Islamischen Republik Iran zum 40. Jahrestag. Mehr noch: es wiederholt sich in der deutschen Öffentlichkeit immer wieder – so Stefan Grigat – die „Behauptung, es fände eine ‚Dämonisierung‘ des iranischen Regimes statt – eine Behauptung, die sich auffallend häufig gerade bei jenen Politikwissenschaftlern, Politikern und Lobbyisten für den deutschen Iran-Handel findet, die ihrerseits eine Dämonisierung Israels betreiben.“ Und von linker und liberaler Seite wird gegenüber außereuropäischen Diktaturen und nicht zuletzt gegenüber islamischen Ländern jede Kritik an der Missachtung der Menschenrechte schnell als rassistisch, islamophob oder kolonialistisch gebrandmarkt, im Zweifel gesteuert über den US-Imperialismus.


Ulrike Becker, am Mideast Freedom Forum Berlin tätig, hat sich intensiv mit Bündnissen des Irans beschäftigt. Sie belegt, dass das Außen- und Wirtschaftsministerium sich in der Sache völlig einig waren, nur lagen beide gleichermaßen falsch: „Wie unrealistisch Steinmeiers Erwartungen waren, zeigte sich nur wenige Tage nach Unterzeichnung des ICPOA im Juli 2015. Zur selben Zeit, als Gabriel im Juli 2015 in den Iran flog, um Geschäfte anzubahnen, flog Qassem Soleimani, der Kommandant der iranischen Quds-Brigaden, nach Russland, um dort mit Präsident Vladimir Putin das Vorgehen im Syrien-Krieg zu planen.“ Die Quds-Brigaden sind die Eliteeinheit der Revolutionsgarden, die gezielt außerhalb des Iran operiert. Ihr Name leitet sich von der arabischen Bezeichnung für Jerusalem ab. Name und Auftrag stehen im Einklang mit der Staatsraison der Islamischen Republik Iran, dass Israel vernichtet werden müsse. Im Herbst 2022 gibt es Berichte, dass der Iran wohl Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine mit Drohnen und Boden-Boden-Raketen zu unterstützen gedenke und dies wohl auch tut. Zurzeit setzt Putin iranische Kamikaze-Drohnen in der Ukraine ein. Offen ist nur, ob er diese schon vor dem 24. Februar 2022 gekauft hat oder erst in den letzten Wochen. Auch über nordkoreanische Hilfe wird spekuliert.


Während Barack Obama und sein Außenminister – so Andreas Benl – mit Rücksicht auf die Stimmung im US-amerikanischen Kongress und in der US-amerikanischen Bevölkerung deutlich machten, „das iranische Regime bleibe ein Gegner, ja ein Feind der USA“, fand der deutsche Wirtschaftsminister freundliche Worte: „Ich habe den Eindruck bei alten Freunden zu sein.“ Der Freundschaftsdienst ließ nicht auf sich warten. Ulrike Becker notiert: „Vom Iran aus appellierte er im Oktober 2016 an die USA, alle verbleibenden Sanktionen aufzuheben.“ Das war wenige Wochen vor der Wahl von Donald J. Trump zum US-amerikanischen Präsidenten.


Ein drittes Beispiel nennt wiederum Ulrike Becker: „Exemplarisch zeigte dies eine Iranreise von drei Mitgliedern der Grünen Jugend, darunter die frühere Bundessprecherin Theresa Kalmer, im August 2016. Nach der Reise erklärte Kalmer zu den Hinrichtungszahlen: ‚Nach den Gesprächen, die wir geführt haben, wird Rohani vor Ort als moderat eingeschätzt. Die dennoch hohen Hinrichtungszahlen wurden so erklärt, dass er aufgrund seiner moderaten Politik innenpolitische Härte zeigen muss, um auch die Konservativen hinter sich zu bekommen.‘“ Diese Sätze sollte man mehrmals lesen, so unglaublich sind sie. Immerhin: Deutsche haben kein Monopol auf solche Denkmuster, Amin Maalouf berichtet in seinem Buch „Le dérèglement du monde“ (2009 bei Grasset erschienen, in deutscher Übersetzung 2010 in der edition suhrkamp unter dem Titel „Die Auflösung der Weltordnungen“) von einem amerikanischen TV-Sender, der das Bild der amerikanischen Soldatin, die einen irakischen Häftling nackt an einer Hundeleine auf allen Vieren kriechen lässt, mit dem Hinweis kommentiert, man müsse wissen, dass Hunde im Islam unreine Tiere seien. Amin Maalouf fragt mit Recht, ob damit rechtfertigt werden könnte, dass irische oder australische Männer wie Hunde an der Leine geführt werden dürften, weil in ihren Ländern Hunde nicht als unrein betrachtet würden.


Der Ton der Beiträge von „Iran – Israel – Deutschland“ ist mitunter ausgesprochen deutlich. Man könnte versucht sein, von Polemik zu sprechen. Dies wäre jedoch grundfalsch, denn die Sprache des Buches spiegelt einfach nur die Verzweiflung darüber, dass das, was Wissenschaftler*innen und Expert*innen der Zivilgesellschaft, auch die Geheimdienste verschiedener Regierungen, nicht nur der Mossad, über den Iran wissen und weitergeben, von der deutschen Regierungsseite systematisch ignoriert wurde und – wie sich jetzt an den zögerlichen Reaktionen der deutschen Bundesregierung im Jahr 2022 zeigt – offenbar nach wie vor ignoriert wird.


Sanktionen gegen einige ausgewählte Akteure der Revolutionsgarden werden das iranische Regime nicht beeindrucken und nach wie vor scheint in Deutschland die Hoffnung zu regieren, dass das Atomabkommen mit dem Iran doch bitte bitte wieder in Kraft gesetzt werden sollte, als ob das Abkommen jemals den Iran gehindert habe, seine nuklear-militärischen Vorhaben weiter voranzutreiben. Matthias Küntzel zitiert Belege der Teilnahme iranischer Forscher an Atomwaffentests in Nordkorea. „Zugleich sind Dutzende Nord-Koreaner in iranischen Atom- und Raketenforschungszentren tätig.“ Die Verbitterung des zitierten Textes von Navid Kermani, der Autor*innen von „Iran – Israel – Deutschland“ und manch anderer hat eine lange Vorgeschichte.


Ulrike Becker überschreibt ihren Beitrag mit dem passenden Titel: „Interesse, Ideologie und Illusion“. Sie spricht von einer „Politik der Illusion“. Die deutsche Seite übersah im Grunde jede „Ideologie“ aufgrund ihres „Interesses“ an einer „Illusion“, die sie für die Wirklichkeit hielt. „Die deutsche Iranpolitik basiert (…) auf der Annahme, das Regime sei gespalten in ‚gemäßigte Reformer‘, mit denen das Atomabkommen ausgehandelt wurde, und in ‚Hardliner‘ um die mächtigen Revolutionswächter. Diese vermeintliche Spaltung wird als Chance für die Deutsche Politik begriffen, die vermeintlich ‚moderaten‘ Kräfte zu stärken.“


Feministische Außenpolitik?


Golineh Atai, zurzeit Leiterin des ZDF-Studios in Kairo, zitiert – ebenfalls in der Novemberausgabe der „Blätter“ – den Revolutionsführer Ruhollah Chomeini: „Wenn die islamische Revolution kein anderes Ergebnis haben sollte als die Verschleierung der Frau, dann ist das per se genug für die Revolution.“ Sie schreibt, dass im demokratischen, liberalen „Westen“ es bei fast jeder iranischen Wahl die Hoffnung gebe, der „moderate“Kandidat möge gewinnen. Es gelingt auch, einen der Kandidaten als moderat zu präsentieren, obwohl von einer gemäßigten Politik keine Rede sein kann: Frauen haben sich zu verschleiern, Israel muss vernichtet werden. Punkt. Diese Inhalte der iranischen Politik änderten sich seit 1979 nicht: „Wir haben zu lange nicht verstanden, wer die alles entscheidende Macht im Iran verkörpert.“ Die Herrschenden „wissen, dass für das Regime die Kontrolle über den weiblichen Körper die Kontrolle der gesamten Gesellschaft verkörpert.“


Der in Österreich lebende Autor und Psychoanalytiker Sama Maani schreibt in „Iran – Israel – Deutschland“ nicht nur über die Demonstration vom 8. März 1979, als im Iran sich bereits „zehntausende Frauen mit Parolen wie ‚Freiheit ist weder westlich noch östlich – sondern universell‘ gegen die drohende Einführung des Kopftuchzwangs“ wehrten, sondern auch über die Heuchelei der Linken: „Um sie mundtot zu machen, wurde ihnen von vielen Linken die iranische Version der Formel vom Haupt- und vom Nebenwiderspruch entgegengeknallt: Sie mögen bitte ihren kleinlichen Kampf gegen religiöse Bevormundung bleiben lassen, um das große ‚antiimperialistische Bündnis‘ mit den islamischen Machthabern, von dem viele iranische Linke fantasierten, ja nicht zu gefährden.“ Golineh Atai überschreibt ihren Essay mit Recht mit der Parole „Frau, Leben, Freiheit“, der Kampf gegen jeden Feminismus ist in der Tat die eine Obsession der iranischen Politik. Die inzwischen in den USA lebende Autorin Masih Alinejad spricht von „Gender-Apartheid“ und verwendet den Begriff an dieser Stelle durchaus zu Recht.


Es geht natürlich nicht nur um Kopftücher, das Kopftuch ist zum Symbol geworden. Darüber schrieb Dunja Ramadan unter dem vielsagenden Titel „Kopfsache“ am 4. November 2022 in der Süddeutschen Zeitung. Es lohnt sich, in Dunja Ramadans Essay die Geschichte dieses Kleidungsstücks zu entdecken, vom Apostel Paulus über das Kopftuch als Privileg freier Frauen in den frühen arabischen Gesellschaften bis zu den heutigen Zwängen. Die deutsche Debatte nennt sie „paternalistisch“. Einer der größten Fehler westlicher Debatten liegt nicht zuletzt darin, dass oft so getan wird, als reiche es, wenn die Frauen im Iran, in arabischen Ländern so würden wie die Frauen in Deutschland, in Frankreich, in Großbritannien. Das Kopftuch, die „Enthüllung“ wurde politisiert, von den Franzosen im Kampf gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung, von Atatürk bei seinen Bestrebungen einer Modernisierung der Türkei und schließlich von Autor*innen, die pauschal jede Muslim*in für „unfrei“ erachteten, die ein Kopftuch trägt, unbeschadet ihrer Motive. Dunja Ramadan kritisiert die Übertragung deutscher, westlicher Debatten auf den Iran: „Wir Frauen stehen zusammen gegen jegliche Form des Zwangs, gegen den zur Verhüllung, gegen den zur Enthüllung. Dafür kämpfen wir. Ob mit Kopftuch oder ohne.“


Roya Hakakian, Mitbegründerin des Iran Human Rights Documentation Centers schreibt in „Iran – Israel – Deutschland“ über die Situation von Jüdinnen und Juden in der Islamischen Republik Iran. Sie zitiert auch Timothy Garton Ash, der in der „New York Review of Books” geschrieben habe, dass er im Iran eine „ungewöhnlich sexualisierte Gesellschaft beobachtet (habe), trotz der offiziellen Bestrebungen nach Sittsamkeit und Selbstbeherrschung“. Er „war selbst zu einer Orgie eingeladen worden. Und er hatte die Beobachtung gemacht, dass die Iraner immer neugieriger bezüglich Israel werden – wenn nicht gar freundlich gesinnt.“ (siehe Timothy Garton Ash, „Die Soldaten des verborgenen Imam“, in: TGA, „Jahrhundertwende – Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010“, München, Carl Hanser Verlag, 2010, die englische Originalausgabe erschien 2009).


Roya Hakakian spitzt diese Erfahrung zu. Sie vermutet, „dass die Menschen das genaue Gegenteil dessen wählen, was die offizielle Propaganda von ihnen möchte.“ Dies ist durchaus Thema in diversen Filmen (z.B. „The Operative“ von Yuval Adler aus dem Jahr 2019) oder Romanen (z.B. Tirdad Zolghadr, Softcore, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2008, oder Amir Hassan Cheheltan, Teheran – Revolutionsstraße, München, P. Kirchheim Verlag, 2009). Diesen anderen Iran, eine private, privatisierende den Augen der Öffentlichkeit und damit auch den Sittenwächtern entzogene iranische Gesellschaft beschreiben Werner van Gent und Antonia Bertschinger in „Iran ist anders – Hinter den Kulissen des Gottesstaates“ (deutsche Übersetzung: Zürich, Rotpunktverlag, 2010).


Es gibt in der Tat diesen anderen, den privaten Iran, der sich jetzt – wieder einmal – in der Öffentlichkeit zeigt, aber ob wir darauf hoffen sollten und könnten, dass der Iran zu einer liberalen Demokratie werden könnte? Timothy Garton Ash glaubte in seiner zitierten Reportage aus dem Jahr 2009, dass dies möglich sei, denn das Regime wirke geradezu kontraproduktiv, sah aber auch den Misserfolg: „Diese rund 45 Millionen jungen Menschen sind die Hoffnungsträger für einen friedlichen Regimewechsel in der Islamischen Republik Iran. Ihre ‚soft power‘ könnte sich als wirkungsvoller erweisen als 45 Divisionen US-Marines. Die acht Jahre von Chatamis reformerischer Präsidentschaft haben immerhin bewirkt, dass diese Generation mit weniger Angst aufgewachsen ist als ihre Vorgänger. Im Sommer 1999 organisierten die Studenten der Teheraner Universität einen großangelegten Protest. Dass Chatami seiner Niederschlagung zustimmte, werden sie ihm nie vergessen. Seither haben kleine Gruppen alljährlich mit Kundgebungen an dieses Datum erinnert, wurden aber jedes Mal von der Polizei auseinandergetrieben. Es herrscht massive Repression: Während ich dies schreibe, wurde ein Studentenführer zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Dennoch vermittelten mir meine jugendlichen Gesprächspartner den Eindruck, dass sie ihren Kampf fortsetzen wollen, vielleicht mit subtileren und einfallsreicheren Formen des Protests.“


Werner van Gent und Antonia Bertschinger sehen durchaus „die schiitische Geistlichkeit gespalten“, allerdings nicht zwischen Diktatur und Demokratie, sondern in der Frage, wie hart die Diktatur durchgreifen solle und gegen wen alles durchgegriffen werden müsse. „Chamene’i verfügt über die Waffen, über die Justiz und über fast uneingeschränkte Geldmittel. Die Revolutionswächter, die unter Ahmadinezhad nebenbei noch zum wichtigsten Generalunternehmer des Landes aufgestiegen sind und mit Milliardenprojekten einen großen Teil der Öleinnahmen in die eigenen Taschen wirtschaften, haben alles zu verlieren.“ Dies gilt auch im Jahr 2022.


Chamene‘i, der schon mehrfach – wie das auch bei anderen Despoten üblich ist – als schwer erkrankt bezeichnet oder sogar totgesagt wurde, ist nach wie vor an der Macht. Revolutionsgarden (Pasdaran) und Quds-Brigaden dominieren nach wie vor, auch wenn andere Akteure in scheindemokratischen Wahlen einmal ausgetauscht werden. Allerdings sollte man nicht unterschätzen, was es bedeutet, dass nur Kandidaten zugelassen sind, die das Placet von Chamene‘i und Wächterrat haben. Unabhängig von der Frage, ob der Iran eine Atombombe bauen kann, dürften „aber auch eine Reihe von Analytikern in den westlichen Machtzentren einmal mehr einen groben Fehler begehen, indem sie den weiter schwelenden Widerstand als Zeichen dafür werten würden, die iranische Bevölkerung warte nur darauf, sich im Fall einer militärischen Invasion gegen die eigene Regierung zu stellen und einen von außen aufgezwungenen ‚Regimewechsel‘ mitzutragen. Ebenfalls falsch wäre die Annahme, Iran würde im Fall eines Regimewechsels zwangsläufig zu einem säkularen, prowestlichen Land werden.“


Man darf nicht vergessen: es geht um alles. Ulrike Marz hält dies in ihrem Essay in „Iran – Israel – Deutschland“ fest: „Was als Interessenkonflikt existiert, wird vom iranischen Islamismus in einen Identitätskonflikt umgedeutet.“ Letztlich stellt sich die Frage, ob dieser „Identitätskonflikt“ die Menschen im Iran als Menschen betreffen soll oder als Muslim*innen in der Version, wie sie die iranische Staatsführung vertritt. Dann lässt sich darüber nachdenken, ob die von Timothy Garton Ash beschriebene Jugend sich durchsetzen wird oder das System der greisen Mullahs. Je nach Schätzung sind um die 60 Prozent der Menschen im Iran areligiös oder atheistisch eingestellt.


Was wäre nun die Aufgabe einer feministischen und wertegeleiteten Außenpolitik? Zu behaupten, der Terror des Regimes im Iran habe nichts mit dem Islam zu tun, wie die deutsche Außenministerin verkündete? Klar, Inquisition und Antijudaismus hatten auch nie etwas mit dem Christentum zu tun. Wir sollten uns im Klaren sein: Antisemitismus, Leugnung der Shoah, Frauen alle Rechte abzusprechen, emanzipierte Frauen und homosexuelle Menschen hinzurichten, das gehört zur Ideologie des Staates, der sich anmaßt, Gott als Staatsoberhaupt in seiner Verfassung zu nennen, seiner Repräsentanten und der durch sie eingesetzten Spitzel und Schlägertruppen. Wie gesagt: wer „Krieg“ gegen die weltliche Staatsführung führt, führt „Krieg gegen Gott“. Dies ist das Band, das die iranische Nomenklatura verbindet. Und nicht nur diese.


Manifest Destiny


Warum tun sich viele Deutsche nun so schwer, sich kritisch zum Islam zu äußern, wie er im schiitischen Iran propagiert und praktiziert wird, unter sunnitischen Vorzeichen auch in anderen Ländern wie in den Golfstaaten und in Saudi-Arabien? Sama Maani spricht in „Iran – Israel – Deutschland“ von dem „Unvermögen, dem Islam gegenüber eine auch nur kritische Haltung einzunehmen.“ Damit einher geht – so Ulrike Marz – die Neigung zur „Charakterisierung des europäischen Antisemitismus als Rassismus“, die dann nahtlos auf den Antisemitismus im Iran übertragen wird. Dies hängt auch mit anti-imperialistischen Traditionen zusammen: „Entweder werden Juden aufgrund rassistischer Motive verfolgt, was weitestgehend, aber nicht konsequent im islamistischen Diskurs abgelehnt wird, oder sie werden ‚berechtigterweise‘ als Zionisten mit imperialistischen Ambitionen verfolgt – oder in der Sprache der Islamisten – ‚zur Verantwortung gezogen.“


Eine Hetzschrift wie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ wurde 1978 ins Persische übersetzt und genoss – wie Stefan Grigat berichtet – hohe Auflagen, „mit unter mit geänderten Titeln wie Protokolle der jüdischen Führer zur Eroberung der Welt‘.“ Islam und Judentum werden geradezu spiegelbildlich zitiert, erscheinen als kommunizierende Röhren. Wer das eine anprangert, macht sich automatisch zum Apolegeten des anderen. In dieser Denkfigur – dazu Andreas Benl – erweisen sich beide Begriffe als Wiedergänger der Freund-Feind-Bilder von „Carl Schmitt, der das Politische als Unterscheidung zwischen Freund und Feind definierte und den Souverän als die Instanz, die über den Ausnahmezustand entscheidet“. Aus der Sicht des Mullah-Regimes sind es eben immer die Juden beziehungsweise die Israelis, zwischen denen kein Unterschied gemacht wird, und – auch hier eine Parallele zum Weltbild europäischer und amerikanischer Rechtsextremist*innen – die Frauen.


Gerhard Scheit zitiert Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (in „Dialektik der Aufklärung“): „Zwischen Antisemitismus und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Zusammenhang.“ Wer gegen Juden, gegen Israel antritt, handelt gottgefällig, im Sinne des obersten Führers, der laut iranischer Verfassung niemand anderer ist als Gott selbst. Wie kann sich da sein Vertreter auf Erden irren? Sama Maani spricht vom Fetischcharakter im Sinne von Karl Marx (siehe in MEW 23 zur Begrifflichkeit der „Ware“), der in der Verwendung des Begriffs des „Islam“ erscheine, gleichermaßen bei denjenigen, die den „Islam“ zur Begründung ihrer Diktatur preisen, wie bei denjenigen, die jede Kritik an islamischer Repression als rassistisch verstehen. Um Differenzierung bemühen sich beide Seiten nicht.


In Deutschland erleben wir die von mehreren der genannten Autor*innen beschriebene Doppelzüngigkeit nach wie vor. Es kann in der Tat schwierig werden, in Kreisen, die sich für liberal und links halten, zu äußern, dass es vielleicht ein Problem sein könnte, wenn Väter ihre minderjährigen Töchter zwingen, Kopftücher zu tragen. Da ist der Rassismus-Vorwurf nicht weit. Wenn es um Kopftücher geht, haben manche Liberale und Linke Beißhemmung. Wer in Deutschland Kopftücher toleriert, sie aber im Iran verurteilt, muss dies schon sehr genau begründen. Ich denke ohnehin, dass die deutsche Kopftuchdebatte neu definiert werden muss. In dieses Syndrom der Beißhemmung gegenüber Vertreter*innen der diktatorischen Spielart des Islam gehört auch die Debatte, ob der im Iran gepflegte Islam als faschistisch bezeichnet werden könne.


Damit ich keinen Beifall von der falschen Seite bekomme, muss ich auch dies sagen: der entscheidende Unterschied zwischen Deutschland und dem Iran ist einfach der folgende: in Deutschland kann zumindest jede erwachsene Frau selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht, und wenn sie es nicht tut, geschieht ihr nichts, wenn sie es tut, hat dies durchaus unliebsame Konsequenzen, aber so oder so, niemand wird verhaftet. Im Iran sind Verhaftung, Folter und Tod die Folge, sogar schon wenn das Kopftuch verrutscht. Der Tod von Mahsa Amini – dies kann man nicht oft genug wiederholen – war nicht der erste Fall, war und ist kein Einzelfall.

J

örn Schulz, Auslandsredakteur von „Jungle World“, hat sich in seinem Beitrag zu „Iran – Israel – Deutschland“ positioniert. Er stellt eine Art iranische „Manifest Destiny“ fest (den Begriff verwendet er aber nicht) und sieht den Iran als ein Land, dessen Regime „ideologisch motivierte Kriege“ mit einer „wertebewusste(n) Armee“ führt, die – so steht es in der iranischen Verfassung – „nicht nur die Grenzen schützen und verteidigen, sondern darüber hinaus die Bürde der weltanschaulichen Botschaft übernehmen, nämlich die Anstrengung und den Einsatz zur Ausbreitung der Herrschaft des Gottesgesetzes auf Erden“.


Darüber, ob die ideologischen Mischungen des Iran als faschistisch bezeichnet werden könnte, ließe sich streiten. Jörn Schulz dazu: „Wer das Gedankenexperiment macht, die Abschnitte aus der iranischen Verfassung noch einmal zu lesen und ‚islamisch‘ dabei durch ‚völkisch‘ oder ‚patriotisch‘ zu ersetzen, kommt zu Aussagen, die wohl jeden westlichen Rechtsextremen begeistern.“ Andreas Benl sieht den „hybriden Charakter, der den linken Antiimperialismus mit einem Antisemitismus kreuzte, der früher mit der extremen Rechten verbunden war.“


Führerprinzip, Massenbewegung und letztlich – dazu wieder Jörn Schulz – „der faschistische Todeskult“, das immer überhöhte „Märtyrertum“, all das lässt sich in der Spielart des im Iran von der Führung propagierten Islam finden. „Das iranische Regime könnte daher als islamisch-klerikalfaschistisch bezeichnet werden, allerdings gibt es auch hier einen bedeutenden Unterschied zum europäischen Klerikalfaschismus etwa franquistischer Prägung. Dort war die Geistlichkeit Bündnispartner eines von Offizieren und Großgrundbesitzern getragenen Regimes. Im Iran hingegen bilden Geistliche die politische Führungsschicht, sie stellen nicht nur den Obersten Führer, den Staats- und faktischen Regierungschef, der auch Oberkommandierender der Streitkräfte ist, sondern dominieren auch die über dem Parlament stehenden Kontrollgremien Wächter-, Experten- und Schlichtungsrat.“


Ein Hoffnungsschimmer?


Sicherlich hat Bernd Beier recht, der am 3. November 2022 in „Jungle World“ unter dem Titel „Kopftuchzwang und Massenarmut“ schrieb: „Nur sind die Proteste heutzutage im Iran wesentlich radikaler. Es geht um den Sturz der Ayatollahs, nicht um eine Reform der Islamischen Republik.“ Möglicherweise ist die im Iran nicht nur aufgrund der westlichen Sanktionen entstandene „Massenarmut“ ein weiterer Faktor, der die Demonstrierenden ermutigt und durchhalten lässt. Andererseits gibt es soziale Unruhen auch in vielen anderen diktatorisch verfassten Staaten, selbst in China. Mir scheint der feministische Charakter der Protest-Bewegung eher Erfolg zu versprechen. Die soziale Frage wird sich allerdings noch früh genug stellen, spätestens wenn es darum geht, einen neuen demokratischen und liberalen Staat aufzubauen. Dieser kann schnell an Zustimmung verlieren, wenn soziale Probleme nicht gelöst werden können. Manch osteuropäischer Staat des post-sowjetischen Raums erlebt zurzeit gerade dies, der deutsche Teil des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs inbegriffen. Vorerst aber geht es im Iran um Freiheitsrechte, um Frauenrechte, um Menschenrechte.


Auch hier inspiriert – wie eigentlich immer – ein Blick in Amin Maaloufs Buch „Le dérèglement du monde“: manche – so schreibt er – hätten die Misserfolge bei der Implementation einer liberalen Demokratie im Irak darauf zurückgeführt, dass die Menschen diese dort nicht wollten. Nichts falscher als dies. Das Problem ist die Halbherzigkeit der westlichen Demokratien. Damit ist nicht die Halbherzigkeit militärischer Interventionen gemeint, wohl aber die Halbherzigkeit des Umgangs westlicher Demokratien mit den Diktatoren dieser Welt, die immer zwischen Verständnis, wirtschaftlichen Interessen und dann irgendwo doch einem zarten Hinweis auf die Menschenrechte schwankt wie – ich erlaube mir diese kleine Reminiszenz an Blaise Pascal – ein „Schilfrohr im Wind“.


Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht passt auf alle Diktaturen und hoffentlich auch auf den Iran, was Wolf Biermann in einem Gespräch mit Alexandra Föderl-Schmid am 29. Oktober 2022 sagte, das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde: Ich halte es nämlich mit dem Philosophen und Rebellen Antonio Gramsci. Dessen lebenskluge Maxime war: ‚Pessimismus der Intelligenz! Und Optimismus der Tat!‘ Ins banale Deutsch ausbuchstabiert: Mein Freund, rechne immer mit dem Allerschlimmsten, aber tue zugleich dein Allerbestes, damit es trotz alledem anders kommt! Ich wusste damals in der DDR, dass diese Diktatur ewig bleibt, soll heißen: jedenfalls länger als mein Leben. Aber zugleich habe ich tatkräftig einiges getan, um am Ende wunderbar unrecht zu behalten. Genau das erlebte ich 1989. Wie die Franzosen sagen und singen: ‚Tout finit par des chansons‘. Mein ‚Kleines Lied von den Bleibenden Werten‘, 1968 geschrieben, nach dem Einmarsch der Russen in Prag, fängt so an: ‚Die großen Lügner und was, na was wird bleiben von denen? Von denen wird bleiben, dass wir ihnen geglaubt haben.‘


Und für uns im dem Iran gar nicht mehr so fernen Deutschland, dem Land, in dem sich viele wünschen, sie lebten in so etwas wie einer großen Schweiz, heißt dies: hört endlich auf mit eurer „Toleranz mit der Intoleranz“, von der Wolf Biermann in einem seiner neuen Lieder singt. Intoleranz mit der Intoleranz, das ist die einzige Sprache, die Diktatoren verstehen. Möge er recht haben, der Wolf Biermann, auch für den Iran. Immerhin klingt Navid Kermani eine Woche später nach der zu Beginn zitierten ZEIT-Philippika am 3. November 2022, ebenfalls in der ZEIT etwas versöhnlicher, schon fast optimistisch im Gedenken an eine andere gelungene Revolution: „Die Iraner und erst recht die Iranerinnen beweisen jetzt den langen Atem, der einst in Südafrika zum Sieg über die Apartheid geführt hat. Seinerzeit hat westliche Realpolitik auf den Sieg der Mutigen gesetzt.“ Möge sie gelingen, die feministische Revolution im Iran!


Norbert Reichel, Bonn

P.S.: Als ich den Essay am 7. November 2022 veröffentlichte, wusste ich noch nicht, welche Meldung am 7. November um 21:45 Uhr meldete über den ntv-Ticker lief: „Das Regime hat nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten bereits mehr als 14.000 Menschen festnehmen lassen, darunter auch Iranerinnen und Iraner, die nicht mal auf der Straße waren, sondern etwa lediglich mit den Protestierenden sympathisieren oder sich in sozialen Netzwerken solidarisiert haben. Und den Inhaftierten könnte Schlimmes drohen: Wie im iranischen Staatsfernsehen zu sehen gewesen sein soll, rufen 227 von 290 Abgeordneten dazu auf, die politischen Gefangenen zum Tode zu verurteilen. Das berichten Menschen unter Hashtags wie #stopexecutionsiran auf Twitter und Instagram.“ Das wäre nicht die erste Massenhinrichtung im Iran! So geschehen beispielsweise im Jahr 1988.


Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Demokratischen Salons, Original-Text

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