Ein Gespräch von Norbert Reichel (Demokratischer Salon) mit der Autorin und Journalistin Fahimeh Farsaie
„Als freie Frau? Ja, man hat mich vor die Wahl gestellt, entweder den Vorschriften zu genügen oder gefeuert zu werden. Ich habe mich gegen die Vorschriften entschieden, deshalb bin jetzt eine freie Frau. Und nun? Fragte ich, als wäre ich nicht selbst in exakt derselben Situation. Ich weiß nicht. Sie zuckte die Achseln. Wahrscheinlich nähe ich jetzt wieder mehr oder backe Kuchen.“ (Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran).
Erleben wir zurzeit im Iran eine feministische Revolution? Eine Revolution, die dafür sorgt, dass Freiheit und Vorschriften kein Widerspruch mehr sind? Wie werden die Proteste im Iran in Deutschland wahrgenommen, heute und in der Vergangenheit, denn wir erleben nicht das erste Mal Proteste und Demonstrationen. In der Vergangenheit setzte sich das Regime jeweils durch. Wie sind die heutigen Erfolgsperspektiven? Über diese und Fragen hat Norbert Reichel am 18. Januar 2023 mit der Autorin und Journalistin Fahimeh Farsaie unterhalten. In dem Gespräch haben wir ausgewählte Texte ihrer Bücher angesprochen und zitiert. Die Texte ließen sich – ebenso wie der eingangs zitierte Text aus Azar Nafisis Buch „Lolita lesen in Teheran“ – durchaus unter dem Leitmotiv der derzeitigen Proteste, „Frau – Leben – Freiheit“, zusammenfassen.
Fahimeh Farsaie lebt seit 1983 in Deutschland. Sie wurde 1952 in Teheran als Tochter eines Kaufmanns geboren, bestand 1970 ihr Abitur und erhielt im selben Jahr den iranischen Fernsehpreis für junge Autoren. 1971 nahm sie ein Jurastudium auf und studierte im Nebenfach Kunstgeschichte. Sie arbeitete für die Wochenzeitung Tamasch. Es war die Zeit der sogenannten „Terroristenprozesse“, die sie in einer Erzählung literarisch bearbeitet und thematisiert hat. Sie wurde verhaftet und 18 Monate im Gassrs-Gefängnis gefangen gehalten. 1973 durfte sie ihr Jurastudium fortsetzen. Sie bestand 1976 ihre Abschlussprüfung.
Publikationen waren nach der Haft nur noch unter Pseudonym möglich. Sie wählte das Pseudonym „Behjart Omid“: „Freude Hoffnung“. Sie arbeitete als Kulturredakteurin für die Tageszeitung Kayan, für die sie 1978 ein Jahr in London verbrachte. 1979, im Jahr der Revolution, kehrte Fahimeh Farsaie zurück nach Teheran, wurde aber unter den neuen politischen Bedingungen entlassen. Sie hatte noch Glück, andere Kolleg*innen wurden verhaftet, gefoltert, ermordet. Die Flucht gelang ihr 1983, sie entging einer neuerlichen Verhaftung, diesmal unter dem Regime Khomeinis. Sie kam über Pakistan nach West-Berlin. Zwei Jahre später wurde sie als Asylberechtigte anerkannt und zog nach West-Deutschland. Seit dieser Zeit lebt Fahimeh Farsaie in Köln.
Eine feministische Revolution?
Norbert Reichel: Ein Schlüsseljahr für den Iran war das Jahr 1979, das Jahr der Revolution. Der Shah verließ das Land, Ajatollah Khomeini kehrte aus dem Exil in Neauphle-le-Château bei Paris zurück. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen dem Jahr 1979 und der Zeit seit September 2022?
Fahimeh Farsaie: Es gibt viele Gemeinsamkeiten, vor allem, dass das Volk nicht mehr mit der Politik der Regierung einverstanden ist. Auch damals gab es einen großen Aufstand. Insofern kann ich sagen, dass auch jetzt die Protestierenden, die Menschen im Widerstand mit der Politik der Regierung nicht einverstanden sind: die Wirtschaft ist in Talfahrt, die Löhne sinken, die Preise steigen. Das Regime hat dem Volk nichts anzubieten. Dies sind die Gemeinsamkeiten der damaligen und heutigen Proteste.
Die Unterschiede liegen in den Parolen und Slogans. Einige wurden aktualisiert, andere neu aufgenommen. Damals gab es die Parole „Brot, Freiheit, Befreiung der politischen Gefangenen“, jetzt steht im Vordergrund die Parole „Frau, Leben, Freiheit“. Damals gab es keine geschlechtsspezifische Parole, das ist heute anders. Heute zeigen sich die Frauen in der ersten Reihe der Proteste.
Norbert Reichel: Wie verhält sich dies zu der großen Demonstration vom 8. März 1979, die auch schon maßgeblich von Frauen organisiert worden ist?
Fahimeh Farsaie: Das war kurz nach der Revolution. Das war der erste Protest, der leider von der Gesellschaft und der Öffentlichkeit nicht unterstützt wurde. Deshalb ist er gescheitert. Die Forderungen, die damals aktuell waren, sind heute immer noch aktuell. Die Frauen gingen damals auf die Straße, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen und vor allem keinen Hijab mehr tragen wollten. Das war eine Aktion gegen die Kleidungsvorschriften der damaligen revolutionären Regierung, die als eine der ersten Maßnahmen Frauen verpflichtete, ein Kopftuch zu tragen. Das Heiratsalter für Mädchen wurde auf neun Jahre heruntergesetzt, die Stimme einer Frau galt vor Gericht nur noch halb so viel wie die Stimme eines Mannes. Dies ist 40 Jahre später immer noch aktuell.
Demonstrationen gegen die Verschleierungspflicht sind nichts Neues. Es gab seit einiger Zeit eine neue Frauenbewegung, die sich „Töchter der Revolutionsstraße“ nannte. Junge Frauen hängten ihre Kopftücher an Ästen auf, stiegen protestierend auf Stromkästen und blieben solange dort stehen, bis die Polizei sie festnahm. Für diese Protestaktionen sind aber inzwischen Haftstrafe zwischen zwei und zehn Jahren vorgesehen. Ich habe diesen 40jährigen Kampf für Frauenrechte am 2. Oktober 2022 in einem Essay mit dem Titel „Women’s lives matter“ ausführlich dargestellt. Er wurde im Iranjournal veröffentlicht.
Der Auslöser der aktuellen Unruhen war dann der Mord an der jungen säkularen Kurdin Mahsa (Jina) Amini am 16. September 2022. Sie soll gegen ein Gesetz verstoßen haben, das Irans Präsident Ebrahim Raissi kurz zuvor verschärft hatte. Das ist ein Unterschied zu 1979: eine säkulare junge Frau wurde ermordet. Dies löste landesweite Proteste von Frauen aus. Und das untermauert die feministische Seite der Bewegung. Das liegt auch daran, dass Frauen nicht nur die Hälfte der Gesellschaft ausmachen, sondern die Hauptopfer der anti-feministischen Politik der Mullahs sind.
Norbert Reichel: Das Kopftuch war unter dem Shah eigentlich kein Thema.
Fahimeh Farsaie: Unter dem Shah durften Frauen selbst entscheiden, ob sie einen Hijab in der Öffentlichkeit tragen wollten oder nicht. Der Vater des Shah hatte sogar verboten, Kopftücher zu tragen. Das war ein eklatantes Beispiel dafür, dass die Diktaturen je nach ihrer Ideologie dem Volk etwas aufzwingen wollten.
Norbert Reichel: Es ist in beiden Fällen Zwang. Unter dem Vater des Shah der Zwang, das Kopftuch auszuziehen, unter Khomeini der Zwang es zu tragen.
Fahimeh Farsaie: Auf jeden Fall. Mit Gewalt versucht man, Frauen zu erniedrigen und ihnen eine bestimmte Kleidung zu zwingen.
Norbert Reichel: Die Kleidung war immer wieder und ist auch heute ein wichtiges Symbol in den Protesten. Oder ist sie mehr als ein Symbol?
Fahimeh Farsaie: Es ist mehr als ein wichtiges Symbol. Dahinter versteckt ist die Idee, die Forderung, selbstbestimmt zu leben. Mit den Protesten gegen das Kopftuch zeigen die Frauen, dass sie die Vorgaben der Regierung für den Lebensstil der Menschen nicht akzeptieren.
Norbert Reichel: Nach meinen Informationen sind zwei Drittel der Studierenden im Iran Frauen. Diese Zahl hat mich sehr verwundert als ich sie las.
Fahimeh Farsaie: Das stimmt. Die Frauen sind zielstrebig, wollen in der Gesellschaft weiterkommen, obwohl die Politik der Regierung Frauen mehr als Mutter, als Ehefrau, als fromme Muslimin sehen will. Sie sollen keine selbstständige Unternehmerin, Akademikerin, keine Arbeiterin sein. Es ist ihnen lieber, dass die Frauen sich mit dem Haushalt und nicht mit Technologie, Wirtschaft oder Wissenschaft beschäftigen.
Norbert Reichel: Frauen können studieren, aber sie dürfen die Berufe, für die sie studiert haben, nicht ausüben?
Fahimeh Farsaie: Ich habe Jura studiert und wollte Richterin werden. Das war noch unter dem Shah-Regime. Mein Ziel war, etwas mehr Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Es wurde mir klar, dass das schwierig ist. Es war eine Illusion, dieses Ziel über das Jura-Studium zu erreichen. Als ich mit dem Referendariat angefangen habe, merkte ich, dass es nicht möglich ist, meine Ideale umzusetzen, weil die Gesetze einfach ungerecht waren. Abgesehen davon, damals gab es keine Einschränkung. Ich hätte als Richterin oder Anwältin arbeiten können. Es war damals meine persönliche Entscheidung, dass ich nicht als Richterin oder Anwältin arbeitete. Ich habe mich bemüht, als Journalistin Fuß zu fassen, um meine Ziele zu erreichen. Das ist mir auch gelungen.
Unter Khomeini durfte man zunächst auch noch als Richterin arbeiten, aber man durfte als Frau nur noch ausgewählte Familienangelegenheiten bearbeiten. Bei einem Mord beispielsweise durfte eine Frau nicht als Richterin fungieren. Die Politik dahinter war, dass eine Frau nur die Hälfte eines Mannes wert ist. In einem Gerichtsverfahren ist das Zeugnis einer Frau im Vergleich zum Zeugnis eines Mannes nur die Hälfte wert. Wo ein Mann als Zeuge reicht, müssen zwei Frauen auftreten und Zeugnis geben. Sie sind nur die Hälfte wert, in jedem rechtlichen Zusammenhang. Daher konnte man als Frau nicht Richterin werden.
Erfolgsaussichten der Proteste
Norbert Reichel: Würden Sie der These zustimmen, dass wir im Iran zurzeit eine feministische Revolution erleben?
Fahimeh Farsaie: Wir müssen erst einmal darüber sprechen, ob es überhaupt eine Revolution ist oder nur eine Reihe von Protesten. Die Kriterien, nach denen man eine Bewegung eine Revolution nennen könnte, sind meiner Meinung nicht vorhanden. Ich würde von einer feministischen Protestwelle sprechen.
Norbert Reichel: Bei der Erörterung der Frage, ob wir eine Revolution erleben, sollten wir auch über die Rolle der Männer sprechen. Sind Männer solidarisch mit den protestierenden Frauen? Sie sagten, dass die Gesellschaft, ich nehme an vor allem die Männer, sich 1979 nicht mit den Frauen solidarisiert hatten. Das scheint heute ja anders zu sein.
Fahimeh Farsaie: Das ist wahr und macht auch einen Unterschied zwischen den damaligen und den heutigen Protesten aus. Eine Revolution braucht viel Unterstützung aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft, meiner Meinung nach auch entsprechende Strukturen, sie braucht eine Partei, eine Organisation, die die Forderungen der Protestierenden umsetzen kann. Wir erleben spontane, dezentralisierte Proteste. Es gibt im Iran keine Presse, die darüber berichtet. Es fehlt meiner Meinung nach an einer Organisation, an Anführer*innen, an Einheit, an den Instrumenten, mit denen man das, was geschieht, als eine Revolution mit Beteiligung der Masse der Bevölkerung bezeichnen könnte. Für eine Revolution fehlen all diese Elemente, die Strukturen.
Norbert Reichel: Das hört sich nicht sehr optimistisch an.
Fahimeh Farsaie: Ich bin pessimistisch oder ich sage: realistisch. In den letzten 40 Jahren gab es viele Proteste, Rebellionen, aber sie führten absolut nicht zu einer Änderung. Im Jahr 2009 gab es diese Grüne Bewegung, die sogar einen Anführer mit Hossein Mussawi hatte, es gab eine Partei, eine Struktur und eine Organisation, trotzdem wurde dies brutal niedergeschlagen. Das haben wir auch 2019 wieder erlebt, als die Benzinpreise angestiegen waren und Menschen auf die Straße gegangen sind. Insofern kann ich keine positive Diagnose für die heutige Entwicklung geben.
Norbert Reichel: Es besteht die Gefahr, dass das Regime mit seinen repressiven Maßnahmen noch einmal davonkommt?
Fahimeh Farsaie: Meiner Meinung nach ja. Man sieht auch, dass die Proteste abgenommen haben. Nach der Hinrichtung von sechs Demonstranten, die alle junge Männer waren, die nur ein normales Leben führen wollten, haben die Proteste, die Streiks abgenommen. Heute bekommt man nur ab und zu eine Nachricht über Proteste in dem ein oder anderen Viertel. Durch die Repressalien sind inzwischen etwa 500 Menschen ermordet worden, etwa 18.000 Demonstrant*innen festgenommen worden. Alle Schichten der Gesellschaft, vor allem Journalist*innen, sind unter Druck. 29 Journalist*innen sind in Haft, viele Sportler*innen, Musiker*innen, Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Filmemacher*innen.
Das komplette Interview ist hier zu lesen. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Demokratischen Salons.
Romane und Erzählungen von Fahimeh Farsaie
Lieferbar sind die im Dittrich-Verlag erschienenen Bücher
Die gläserne Heimat.
Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden.
Nassrins ost-westliche Nacht.
Antiquarisch erhältlich sind:
Hüte dich vor den Männern mein Sohn.
Die Flucht und andere Erzählungen.
Vergiftete Zeit – Der Fall des Doktor Danesh.
Auf der Internetseite von Fahimeh Farsaie finden sich Leseproben der Romane, eine Übersicht ihrer Essays, Leseproben ihres Theaterstücks „Das giftige Grün des Herzens“ und des Hörspiels „Das Warten“ sowie Links zu ausgewählten Rezensionen. Sie veröffentlicht auch auf der Internetseite des Iran Journals, so am 2. Oktober 2022 den bereits im Gespräch zitierten Appell „Women’s Lives Matter“.
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