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„Solange die Menschen sterben, sterben die Diktaturen mit ihnen“

Wie beobachten IranerInnen, Exil-IranerInnen oder im Westen lebende Menschen mit iranischen Wurzeln die Proteste in Iran? Mit einem Fragebogen holen wir Stimmen ein. Diesmal: Ali Khademolhosseini, deutsch-iranischer Menschenrechtler und Aktivist.


Die Proteste in Iran halten seit Wochen an. Mit welchen Gefühlen oder Gedanken beobachten Sie diese aktuell?

Ich betrachte den gegenwärtigen Stand der Dinge mit Hoffnung, aber auch mit Ohnmacht. Auch wenn beides gegensätzlich ist, so ist doch eine Koexistenz zwischen den beiden möglich. Somit habe ich Hoffnung, denn ich vertraue ganz bewusst der Möglichkeit des Wahrscheinlichen und nicht dem Erfordernis des Wahrscheinlichen.

Zugleich empfinde ich aber auch Ohnmacht, den ich bin als Einzelner impotent, dem Elend meines Volkes ein Ende zu setzen. Ich erlebe und bezeuge, so wie die Leute, mit denen ich mal zur Schule gegangen bin, die mit großem Opfer auf die Straße gehen und sich nun im gewaltlosen Widerstand betätigen, um die Herrschaft der Theokraten zu überwinden. Solange Hoffnung und Ohnmacht fortbestehen, gilt die grundlegende Prämisse. Zwar kann das Individuum entmächtigt sein und nur über endliche Ressourcen und Kompetenzen verfügen, dafür existieren wir jedoch als soziale Geschöpfe in unseren eigenen Verhältnissen und agieren und kooperieren im Kollektiv des Individuums. Die Verwirklichung der Möglichkeit des Offensichtlichen und des Tatsächlichen sind daher eine Pflicht der Gesamtheit und jeder Singularität.


Haben Sie direkte Kontakte zur Bevölkerung in Iran? Falls ja: Was hören oder lesen Sie dort?

Was ich erfahren kann, beschränkt sich auf die Empfindungen von Verwandten und Bekannten, aber der Grundtenor ist, dass gegenwärtig ein Zerfall der Tyrannei im Land so wahrscheinlich ist wie die Endgültigkeit des Lebens. Denn wir wissen, dass diese Diktatur von Dauer ist, aber die Dauer ihres Fortbestehens ist ein tiefes Geheimnis. Was offensichtlich ist, bleibt konstant: Solange die Menschen sterben, sterben die Diktaturen mit ihnen.


Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein? In welcher Phase sind die Proteste?

Ich deute darauf hin, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem die Beharrlichkeit des Widerstands erforderlich ist. Die politischen Akteure müssen sich den Herausforderungen und der Verzweiflung der Menschen stellen und die Aktivistinnen und Aktivisten im Land müssen sich organisieren und den Widerstand verstärken. Wir bedürfen gegenwärtig neuer Triumphe und Erfolge. Ich rechne mit einem Nachlassen der Moral, sofern nicht ein Hauch von frischem Wind hereinweht. Ein solcher Wind kann in vielerlei Gestalt daherkommen, sei es die Etablierung der Alternative in der Opposition, sei es ein möglicher Rückzug des Feindes oder ein epischer Moment.

Im Moment sind unsere Geschicklichkeit, unser Scharfsinn und unser Einfallsreichtum beim Organisieren angesagter als unser Wagemut, sei es im Iran oder im Ausland.


Anders als viele andere große Proteste und Revolutionen geht diese auf den Aufstand von Frauen zurück. Was macht die feministische Revolution so besonders?

Man hat endgültig eingesehen, dass überall dort, wo nur die Männer frei sind und sonst keiner, keiner frei ist. Daher gebührt die Freiheit demjenigen, der sie festhält und in vollen Zügen auslebt.


Hierzulande – in Deutschland als auch anderen westlichen Ländern – wird das Thema in den Medien überlagert von anderen Themen wie dem Ukraine-Krieg. Was muss sich tun, um dies zu ändern?

Eine wirksame und konsequente Öffentlichkeitskampagne wird dazu beitragen, das Problem zu beheben. Darüber hinaus fehlen uns Strukturen auf Bundes-, Landes- sowie auf EU-Ebene, um effizient zu kommunizieren und zu harmonisieren.


Was ist Ihre Prognose: In welche Richtung wird sich Iran bzw wird sich der Aufstand in den kommenden Monaten entwickeln?

Die gegenwärtige Lage ist mit besonderer Vorsicht zu bewerten, denn das Regime im Iran ist eine enorme Sicherheitsgefährdung für den Westen. Gleichzeitig sind die Herausforderungen des Widerstands nicht gerade gering. Daher gilt es weiterhin abzuwarten. Die Menschen im Iran sind entschlossen, dieses Regime zu beseitigen, was der große Generalstreik und die Fähigkeit des Volkes, ihn durchzuführen, belegen.


Ali Khademolhosseini ist ein deutsch-iranischer Menschenrechtler und Aktivist. In den vergangenen sieben Jahren hat er in verschiedenen Bewegungen als Kampagnenstratege und Projektleiter gearbeitet. Er gehört den Grünen in Deutschland an und befasst sich politisch mit Außenpolitik, Fragen der internationalen Sicherheit und Menschenrechten.



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