Am 18. Juni 2021 wählten die Iranerinnen und Iraner einen neuen Präsidenten. Zur Wahl standen allein linientreue Kandidaten. Der Wächterrat hatte entschieden, wer antritt und das Feld vorab ausgedünnt – ein Zeichen für die wachsende Dominanz der Ultrakonservativen. Andere Stimmen wurden noch weiter an den Rand gedrängt, so Iran-Experte und Journalist Paul-Anton Krüger.
Die Präsidentenwahl in Iran hat sich angesichts der tiefgreifenden Wirtschaftskrise und des Streits über den Kurs in der Außenpolitik lange als Höhepunkt einer zunehmend scharfen Auseinandersetzung der konkurrierenden politischen Lager in der Islamischen Republik abgezeichnet.
Auf der einen Seite stehen dabei die moderaten Konservativen, die in Hassan Rohani den Noch-Präsidenten stellen, und die Reformer. Beide haben seine Regierung und das Atomabkommen mit den USA sowie den anderen Weltmächten unterstützt, ebenso den Kurs einer wirtschaftlichen Öffnung; die Reformer stellen den Ersten Vizepräsidenten Eshagh Dschahangiri. Rohani darf wegen der Begrenzung der Amtszeit auf zwei Perioden in Folge nicht erneut antreten, versucht aber, vor dem Amtswechsel noch den Nuklear-Deal mit den USA wiederzubeleben.
Auf der anderen Seite finden sich die Ultrakonservativen und ihre Verbündeten bei den Revolutionsgarden, der Elite des iranischen Militärs. Hardliner kontrollieren die Justiz und den mächtigen Sicherheitsapparat. 2020 haben sie auch das Parlament übernommen. Dem Atomabkommen stehen sie kritisch gegenüber, eine Annäherung mit dem Westen lehnen sie ab. Bei der bevorstehenden Wahl wollen sie das Präsidentenamt erobern; die Regierung ist das letzte Machtzentrum, das sie noch nicht dominieren – und ihre Chancen dafür stehen gut. Das liegt am politischen System der Islamischen Republik: Es kombiniert theokratische Elemente, die autoritäre Herrschaft des Obersten Führers, mit demokratischen. Letztgenannte kommen aber nur soweit zum Tragen, wie dem Regime politischer Wettbewerb opportun erscheint. Denn von einer freien Wahl kann in Iran keine Rede sein: Antreten dürfen nur vom Establishment als hinreichend linientreu eingestufte Kandidaten.
Die Rolle des Wächterrats
Die iranische Verfassung sieht ein demokratisch nicht legitimiertes Gremium vor, den zwölfköpfigen Wächterrat, der alle vom Parlament beschlossenen Gesetze auf die Vereinbarkeit mit dem Islam prüft und blockieren kann. Ebenso muss der Rat, eine Art Verfassungsgericht, alle Bewerberinnen und Bewerber um ein politisches Amt zur Wahl zulassen – die Kriterien dafür sind wenig durchschaubar.
Die Hälfte seiner Mitglieder sind Kleriker, Gelehrte des Islamischen Rechts, die der Oberste Führer, Ajatollah Ali Chamenei, direkt benennt – er ist Irans autokratisches Staatsoberhaupt, das sich der Tagespolitik meist enthält, aber in allen politischen Fragen das letzte Wort hat. Die sechs anderen Mitglieder sind Juristen, die das Parlament auf Vorschlag des Justizchefs wählt. Diesen wiederum ernennt der Oberste Führer – der den Wächterrat somit kontrolliert.
Das Gremium, in dem ebenfalls die Hardliner in der Überzahl sind, prüft formale Kriterien, wie Alter oder die erforderliche Ausbildung. Den Großteil der Kandidaten aber schließt es aus politischen Gründen aus, die nicht öffentlich gemacht werden.
Insgesamt registrierten sich 592 Bewerberinnen und Bewerber beim Innenministerium. Die Favoriten, der als Chamenei Wunschkandidat geltende Justizchef Ebrahim Raisi und der frühere Parlamentspräsident Ali Laridschani, reichten ihre Unterlagen erst am letzten Tag der Frist ein. Raisi hatte im Jahr 2017 gegen den scheidenden Amtsinhaber Rohani bereits in der ersten Runde krachend verloren, obwohl andere Hardliner sich kurz vor der Wahl zu seinen Gunsten zurückgezogen hatten.
Es zeichnete sich ein Duell zwischen Raisi und Laridschani ab. Sofort begannen die Attacken der Ultrakonservativen auf Laridschani: So wurde zum Beispiel in sozialen Netzwerken ein montiertes Bild von ihm verbreitet, das ihn in einem violetten Doppeldeckerbus zeigt, Linie „Teheran-New York“. Violett war im Wahlkampf die Farbe von Präsident Hassan Rohani, der auf dem Foto als Passagier winkt, wie eine Reihe anderer führenden Vertreter des moderaten und reformistischen Lagers. Das Fahrtziel New York steht für die Annäherung an die USA. Andere Plakate zeigten Laridschanis Verwandte, die angeblich im „feindlichen Ausland“ leben, unter ihnen seine Tochter, die zeitweise an einer US-Universität geforscht haben soll.
Laridschani entstammt einer der wichtigsten Politiker-Familien in Iran. Seine jahrzehntelange Karriere begann er als Vertreter der ultrakonservativen Prinzipalisten, sein Bruder Sadeq war Chef der Justiz und gehört dem Wächterrat an. Offiziell wollte Laridschani als Unabhängiger antreten. Er hoffte, so jene Wählerinnen und Wähler hinter sich zu versammeln, die eine Regierung der Ultrakonservativen ablehnen. Von seinen Gegnern wurde er als politischer Erbe Rohanis dargestellt, der wegen der Wirtschaftskrise stark an Beliebtheit eingebüßt hat – viele Iranerinnen und Iraner machen nicht die Sanktionen, sondern Korruption im Regime und Missmanagement für die Misere verantwortlich.
Auch Rohanis Vorgänger, der populistische Hardliner Mahmoud Ahmadinedschad, hatte sich trotz früherer Ablehnung durch den Wächterrat erneut registriert, wurde aber nicht zugelassen. Er genießt in den ärmeren Bevölkerungsschichten nach wie vor Popularität.
Das politische Spektrum wird kleiner: Nun trifft es auch die pragmatischen Konservativen
Doch bis auf sieben Kandidaten schloss der Wächterrat alle Bewerberinnen und Bewerber aus, unter ihnen alle 40 Frauen. Ahmadinedschad traf es, aber auch alle prominenten Bewerber der moderat Konservativen und der Reformer, zuvorderst Laridschani und Dschahangiri, den Ersten Vizepräsidenten. Das Feld wurde damit so ausgedünnt, dass alles andere als ein Sieg Raisis einer Sensation gleichkäme. In den sozialen Medien verbreitete sich ein Bild von der Fernsehdebatte der Kandidaten – hinter allen Pulten ist Raisi zu sehen.
Damit verengt das Regime das politische Spektrum weiter, ein Trend der 2009 begonnen hatte, als Mahmoud Ahmadinedschad mutmaßlich durch Wahlbetrug eine zweite Amtszeit erhielt und das Regime die Proteste dagegen, bekannt als „grüne Revolution“, blutig niederschlug. Führende Reformer wie der einstige Präsident Mohammad Chatami sind schon länger kaltgestellt – iranische Medien dürfen weder sein Bild zeigen noch seine Äußerungen wiedergeben. Nun sollen offenbar auch die pragmatischen Konservativen an den Rand gedrängt werden.
Was Laridschani oder Dschahangiri aus Sicht des Wächterrats für das Präsidentenamt untauglich macht, ist öffentlich nicht bekannt – beide haben lange mit Billigung des Gremiums hohe Ämter bekleidet. Schnell regte sich Protest gegen die Entscheidung des Wächterrats bis hin zum Präsidenten oder Laridschanis Bruder Sadeq, der dem Gremium angehört. Sie forderten, die Ausschlüsse rückgängig zu machen. Chamenei hatte das bei früheren Wahlen in Einzelfällen getan, doch diesmal stellte er sich hinter das Verdikt des Wächterrats. Die Debatte war damit zumindest offiziell beendet – bis der Oberste Führer in einer Rede zum 33. Todestag Chomeinis eine Wende vollzog. Zumindest scheinbar.
„In dem Auswahl-Prozess wurde einigen Kandidaten Unrecht getan“, kritisierte Chamenei am 4. Juni. Es seien unwahre Dinge über manche Bewerber und deren Angehörige verbreitet worden. „Ich rufe die verantwortlichen Körperschaften auf, ihre Ehre wiederherzustellen“, sagte er. In Iran wurde das als Verweis auf Attacken der Hardliner auf Dschahangiri und vor allem Laridschani gewertet. Und als indirekte Weisung Chameneis an den Wächterrat, seine Entscheidung zu revidieren. Dschahangiri und Laridschani gaben zu erkennen, dass sie eine Wiedereinsetzung ihrer Kandidatur erwarten.
Das Establishment hat die Wahlbeteiligung zum Gradmesser der Legitimität des Regimes erklärt. Schon vor der Parlamentswahl im Februar 2020 hatte der Wächterrat so viele reformistische und moderate Kandidaten disqualifiziert, dass eine Mehrheit für die Hardliner feststand, bevor das erste Wahllokal öffnete. Die Iranerinnen und Iraner blieben daraufhin überwiegend zu Hause, obwohl Chamenei die Stimmabgabe zur „religiösen Pflicht“ erhoben hatte: Die Beteiligung brach um fast 20 Prozentpunkte auf 42,5 Prozent ein, der niedrigste Wert seit Bestehen der Islamischen Republik.
Nun fürchtet Chamenei offenkundig ein ähnliches Desaster bei der weit bedeutenderen Präsidentenwahl – manche würden „aus absurden Gründen“ erwägen, ihre Pflicht zur Teilnahme an der Wahl nicht wahrzunehmen, warnte er in einer Rede. In einer Umfrage eines staatlichen Instituts hatte da ein Drittel der 5000 Befragten angegeben, auf keinen Fall wählen zu wollen, weitere neun Prozent eher nicht, 15 Prozent zeigten sich unentschlossen.
Ein Sprecher des Wächterrates erklärte, Anordnungen des Obersten Führers seien endgültig und das Gremium nicht über Fehler erhaben. Er kündigte eine Überprüfung an. Den Ausschluss revidiert hat der Wächterrat aber nicht. Chamenei bliebe nun nur noch eine direkte Intervention – wenn es ihm um den politischen Wettbewerb ginge, nicht nur um kosmetische Schadensbegrenzung.
Der Wächterrat will prüfen, doch der neue Präsident steht vermutlich schon fest
So aber traf Raisi bei der ersten Fernsehdebatte, dem offiziellen Wahlkampfauftakt, nur auf seine sechs zugelassenen Konkurrenten. Vier von ihnen sind Hardliner: Mohsen Resai, ein früherer Kommandeur der Revolutionsgarden, tritt bereits zum vierten Mal an. Saeed Dschalili, ebenfalls ein Revolutionsgardist und Veteran des Krieges gegen den Irak, der zeitweise Atom-Unterhändler war, hatte 2013 nur knapp mehr als elf Prozent geholt. Den ultrakonservativen Abgeordneten Alireza Zakani, einen ausgesprochenen Gegner des Nukleardeals, hatte der Wächterrat bei beiden vorangegangenen Präsidentenwahlen noch disqualifiziert. Wie seinem Kollegen Amirhossein Qazizadeh Hashemi, einem Hardliner aus Maschhad, mangelt es ihm aber vor allem an landesweiter Bekanntheit.
Daneben darf der ebenfalls wenig populäre Reformer Mohsen Mehralizadeh antreten, der allerdings als Unabhängiger kandidiert und sich nicht auf der Liste der Reform-Front findet, einem Zusammenschluss von etwa 30 Parteien und politischen Gruppen. Als moderater Technokrat gilt Zentralbankchef Adbolnasser Hemmati, den Rohani aus dem Amt entlassen hat, nachdem seine Kandidatur bewilligt wurde. Viele Iranerinnen und Iraner lasten ihm die rasende Entwertung der Landeswährung an.
In der Fernsehdebatte, die geprägt war von persönlichen Attacken, ging es vor allem um die Wirtschaftskrise. Umstrittene Themen wie die Zukunft des Atomabkommens mit den USA oder die Außenpolitik, die direkt mit der Misere zusammenhängen, wurden ausgespart, ebenso der Umgang mit den in Iran zwar verbotenen, aber einflussreichen sozialen Medien. Chamenei hatte diese Themen in einer Ansprache als „uninteressant“ bezeichnet.
Unerwähnt bleiben dürfte im weiteren Verlauf des Wahlkampfs auch Raisis Rolle bei der Ermordung tausender Regimegegner im Jahr 1988, die offiziell bestritten wird. Laut Dokumenten und Zeugenaussagen gehörte er als Vizestaatsanwalt von Teheran dem vierköpfigen „Komitee des Todes“ an, das auf eine geheime Fatwa Chomeinis hin politische Häftlinge ohne Urteile hinrichten ließ, bevor er weiter Karriere in der Justiz und als Chef der wichtigsten religiösen Stiftung in Iran machte.
Trotz abgestimmter Attacken der fünf Hardliner sahen Umfragen den geschassten und nicht sonderlich beliebten Zentralbanker Hemmati als Sieger der Debatte – nicht aber automatisch als Wahlsieger. Da lag Raisi zumindest vor der Sendung mit mehr als 40 Prozent deutlich in Front. Sollte keiner der Kandidaten am 18. Juni auf Anhieb eine absolute Mehrheit erzielen, sind die mehr als 58 Millionen wahlberechtigten Iranerinnen und Iraner zu einer Stichwahl zwischen den beiden Führenden aufgerufen. Doch Überraschungen scheint das Regime mit allen Mitteln vorbeugen zu wollen.
Original-Text: Paul-Anton Krüger für Bundeszentrale für politische Bildung, , CC BY-NC-ND 4.0
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