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„Das ist ein Schlachtfeld. Unser Schwert ist Liebe“




– So rappt Toomaj Salehi und gibt damit den Sound der Revolution im Iran wieder. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei verhaftet wurde, wachsen die Proteste. Und die Solidarität ist groß – sie zieht sich durch alle Altersgruppen, Schichten und Geschlechter. Zusammen kämpfen die Menschen für Frauen, Leben, Freiheit.


Gilda Sahebi

Die Journalistin und Autorin Gilda Sahebi, die mit vielen Menschen im Iran in engem Kontakt steht, beleuchtet in ihrem Buch „Unser Schwert ist Liebe“ die unterschiedlichen Aspekte der Revolte: die Rolle der Musik, die feministische Perspektive, die lange Geschichte der gewaltvollen Unterdrückung. Sie zeigt, wie die Iraner*innen der furchtbaren Brutalität des Regimes die größte Kraft entgegensetzen: Liebe.


Wir bringen eine Leseprobe aus dem Buch, das am 8. März erscheint. Lesen Sie auch das Interview mit der Autorin bei uns.


Details zum Buch:



Gilda Sahebi: Unser Schwert ist Liebe.

256 Seiten

ISBN: 978-3-10-397551-2

Erscheinungstermin: 08.03.2023

S. Fischer



Leseprobe


VORWORT


Als ich kurz davor war, das Buch abzuschließen, gerade die allerletzten Texte schrieb, da schickte mir Yasmin eine Nachricht. Es war Anfang Januar, Mittwochfrüh, 8 Uhr. »Morgen Gilda Joon, können wir kurz sprechen? Es geht um etwas Wichtiges.« Klar, schrieb ich. Yasmin Fattahiamin ist Studentin in Berlin und engagiert sich im Iran Detainees Report, einer internationalen zivilgesellschaftlichen Bewegung, die Informationen zu politischen Gefangenen im Iran sammelt und verifiziert. Yasmin hat die Namen der Getöteten seit dem 16. September recherchiert, die im Anhang dieses Buches zu finden sind. Sie rief an; sie klang bedrückt. Sie habe jetzt schon 150 Namen recherchiert, sagte sie. »Es sind so viele Tote aus Zahedan bisher. Und viele von ihnen haben denselben Nachnamen.« Das heißt, die Regimetruppen haben in Sistan Belutschistan ganze Familien ausgelöscht, dachte ich. »Was sollen wir machen?«, fragte Yasmin. Was sollte ich da antworten?


Als ich Weihnachten 2022 zu Hause war, erzählte mein Vater mir eine kleine Geschichte. Es war das Jahr 1975; mein Vater studierte in Teheran, kehrte aber jeden Sommer nach Hause nach Bojnord zurück. In der Nähe von Bojnord, in einem Dorf names Kalantar, hatte mein Großvater ein Stück Land. Dort verbrachte die Familie die drei Monate des Sommers. Mein Vater half bei der Arbeit, die auf den Feldern anfiel. Eines Tages sah er, wie Männer ins Dorf kamen; sie trugen andere Kleidung als die Menschen im Dorf und hatten Schafe bei sich. »Woher kommt ihr?«, fragte mein Vater. »Aus Sistan Belutschistan«, antwortete einer der Männer. Mein Vater wunderte sich, dass sie so weit gereist waren, aus dem Süden bis in den Norden des Landes. Sie seien gekommen, sagten sie zu ihm, um ihre Schafe zu verkaufen. Dort, wo sie herkämen, habe niemand Geld, um ihnen die Tiere abzukaufen. »Wir haben weder Mehl noch Weizen«, sagten die Männer. »Wir können unsere Kinder nicht ernähren. Bei uns herrschen Hunger und Krankheit.« Mein Vater wurde wütend, erzählte er mir. Der Shah habe die Menschen in Sistan Belutschistan sehr schlecht behandelt, sagte er. Er habe es zugelassen, dass die Kinder des Landes in Armut und Hunger aufwuchsen. Ich hörte die Wut in der Stimme meines Vaters.


Es gibt viele Geschichten, die ich in diesem Buch nicht erzählt habe; die lange Geschichte der Unterdrückung der Menschen in Sistan Belutschistan ist eine davon. In der Kürze der Zeit ist es mir nicht gelungen, eine Person aus dieser Region des Iran zu finden, die ihre eigene Geschichte hätte aufschreiben können, die von Armut hätte erzählen können, aber auch von der Resilienz der Menschen. Davon, dass die Belutsch*innen seit Beginn der Protestbewegung im September 2022 jeden Freitag auf die Straßen gehen, dass sie sich nicht unterkriegen lassen, trotz der Gewalt, die sie durch dieses Regime und schon seit Jahrzehnten erfahren. Von Khodanur Lojei, einem jungen Belutschen, 27 Jahre alt, der Anfang Oktober 2022 getötet wurde und dessen Bilder um die Welt gingen. Wie er zur Folter an einen Laternenpfahl gefesselt wurde, das Glas Wasser gerade so weit weg, dass er es nicht erreichen konnte. Dieses Bild verblasst in meiner Erinnerung, wenn ich an die Videos von ihm denke, wie er in traditionellem Gewand tanzt, lacht, wie er sich bewegt, so schön und grazil. Ein Sinnbild für die Menschen in Sistan Belutschistan, die, so erzählte mir ein Iraner einmal, zu den »liebenswürdigsten und großzügigsten Menschen des Iran gehören«.


Es gibt viele Geschichten, die ich nicht erzählen kann. Von den Afghan*innen im Land, die rassistisch unterdrückt und marginalisiert werden, von der grassierenden Armut, von der Wirtschaftskrise. Ich kann in diesem Buch nur eine Auswahl an Geschichten aus dem Iran erzählen, aus der Vergangenheit und von heute. Ein Heute, das sich minütlich verändert; ich erwähne Namen von Menschen, von denen ich nicht weiß, ob sie noch am Leben sein werden, wenn das Buch erscheint. Es ist ein Buch der Namen, der Geschichten einzelner Menschen, denn sie sind es, um die es geht. Dieses Regime will Erinnerungen auslöschen, an die Geschichte, aber besonders Erinnerungen an die Menschen, indem es sie zum Verstummen bringt, sie ins Gefängnis wirft oder sie tötet. Das Einzige, was man dem entgegensetzen kann, ist, ihre Geschichten zu erzählen, ihre Namen zu sagen, der Menschen, die gestorben sind, die Liebste verloren haben, die gekämpft haben. Und die weiterkämpfen. Denn das tun die Menschen im Iran: Sie kämpfen weiter. Weil sie etwas haben, wofür sie kämpfen. Während die Machthaber nur den Verlust der Macht fürchten. Die Songzeile »Unser Schwert ist Liebe« von Toomaj Salehi drückt genau das für mich aus. Sein jahrelanger Einsatz für Freiheit und Gleichberechtigung finden sich in seiner Musik, finden sich in diesen Worten wieder.


Was soll man machen?, war Yasmins Frage. Ihre Geschichten erzählen. Sie nicht mehr im Dunkeln verschwinden lassen. Nicht die Menschen vergessen noch ihre Geschichten. Es sind oft Geschichten der Gewalt und des Schmerzes, deswegen liegt über dem gesamten Buch eine Content Note. Hinter jeder Geschichte, die gewaltvoll ist, treten aber Hunderte, Tausende Lichter hervor. Einige Wochen nachdem die Proteste begonnen hatten, wurde ich gefragt: Wirst du nicht zynisch bei all dem Schmerz, über den du berichtest? Und ich dachte: Wie könnte ich zynisch werden? Ob im Iran oder anderswo auf der Welt: Es braucht nur ein kleines, winziges Licht, um das Dunkel zu erleuchten. Die Geschichte des Iran ist voller Lichter. Davon möchte ich erzählen.



DER PROTEST


Am 2. Oktober wäre sie 17 Jahre alt geworden. Nika Shakarami, ein Teenager aus Teheran, deren Bild im Oktober 2022 um die Welt ging: Schwarze Haare, blond gefärbte Spitzen, schwarzer Eyeliner, schwarzes T-Shirt. Sie soll K-Pop-Fan gewesen sein, sich oft dunkel angezogen haben. Sie malte gerne und sie mochte es zu singen: Ein weit verbreitetes Video zeigt Nika Shakarami auf einer privaten Feier auf der Bühne, das Mikro mit beiden Händen gepackt; sie singt ein altes iranisches Lied, lacht dabei und albert herum. In der Nacht vom 20. auf den 21. September 2022 verschwindet Nika Shakarami. Etwa eine Woche später finden ihre Angehörigen das tote Mädchen in einer Leichenhalle. Nika Shakaramis Tod zeigt, mit welcher Perfidie und Brutalität die Machthaber selbst gegen die jüngsten Menschen in ihrem Staat vorgehen.


Es war dieselbe Brutalität, die den Tod jener Frau herbeibrachte, die ganz am Anfang der iranischen Protestbewegung steht: Jina Mahsa Amini. Die 22-jährige Kurdin lebte in Saqqez, einer Stadt im Westen Irans, in Kurdistan. Am 13. September, einem Dienstag, war sie zu Besuch in Teheran. Als sie von der sogenannten Sittenpolizei angehalten wurde, war sie gerade mit ihrem Bruder unterwegs. Diese »Sittenpolizei« besteht aus Frauen und Männern, die im Land umherfahren und Menschen, in erster Linie Frauen, einfangen, inhaftieren und misshandeln, die gegen die vermeintlichen Sitten des Landes verstoßen. Kaum eine Frau, die keine Erfahrungen mit dieser Polizei gemacht hätte; wer in Iran als Frau das Haus verlässt, kann leicht zur Beute staatlicher Gewalten werden. So auch Jina Mahsa Amini. Die Sittenpolizei griff sie auf und nahm sie mit; ihre Kleidung und ihr Kopftuch hätten nicht den »Sitten« der Islamischen Republik entsprochen. Drei Tage später war sie tot. Geleakte CT-Aufnahmen und Fotos aus dem Krankenhaus zeigen starke Verletzungen im Kopfbereich. Die junge Frau muss massive Gewalt erfahren haben. Nachdem sie zunächst ins Koma gefallen war, starb sie am 16. September.


Bei Jina Mahsa Aminis Beerdigung im kurdischen Saqqez am Samstag, den 17. September beginnen sie: die Proteste, die die Islamische Republik in ihren Grundfesten erschüttern sollten. In diesem ersten Protestzug nehmen Frauen in Scharen ihre Kopftücher ab und schwenken sie in der Luft. So etwas gab es noch nie in der Geschichte des 1979 ausgerufenen Staates. Die Menschen, die im Trauerzug mitlaufen, verlauten jenen Ruf, der zum Markenzeichen dieser Bewegung wird: Jin, Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit. Ein Ruf der kurdischen Frauenbewegung, den Kurdinnen in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat in die Schlacht trugen. Zan, Zendegi, Azadi, auf Farsi, rufen die Menschen – nicht nur die Frauen, sondern alle, Frauen, Männer, LGBTIQ-Personen – bald überall im Land. Es ist der Auftakt einer historischen feministischen Bewegung. Auch Nika Shakarami schließt sich dieser Bewegung an und gehört zu den ersten Menschen, die das Regime in seinem Versuch, die Proteste niederzuschlagen, tötet.


Während es laut CNN-Recherchen zufolge eindeutige Hinweise dafür gibt, dass Nika Shakarami am 21. September von bewaffneten Kräften des Regimes verhaftet, misshandelt und umgebracht wird, geben die staatlichen Behörden bekannt, das Mädchen habe Selbstmord begangen. Eine Geschichte, die der Staat immer wieder verkündet, um die eigenen Morde zu vertuschen: Die Getöteten seien krank gewesen oder hätten sich selbst umgebracht. Nachdem einige Wochen Proteste ins Land gehen, beginnen junge Menschen deswegen, vorsorglich Videos aufzunehmen: Nein, sie sind weder körperlich noch psychisch krank. Sie haben auch nicht vor, Suizid zu begehen. Diese Videos sollen später dazu dienen, die Lügen des Regimes zu widerlegen, falls sie getötet werden.


Auch über Jina Mahsa Amini verbreitet das Regime die Geschichte, sie habe eine Herzerkrankung gehabt, an der sie plötzlich verstorben sei. Eine Lüge, die das medizinische Personal der Pathologie nicht mittragen will. Ende Oktober wendet sich Mehran Fereydouni an die Öffentlichkeit: Der Forensiker erklärt, dass er und seine Kollegen Jina Mahsa Aminis offizielle Todesursache unter keinen Umständen anerkennen. Am 24. Oktober, kurz nach seinem öffentlichen Statement, wird er verhaftet.


Unter vielen Menschen macht bald der zynische Witz die Runde, wie seltsam es sei, dass plötzlich so viele junge Menschen schwer krank seien und eine Selbstmordwelle das Land erfasst habe. Sowohl Jina Mahsa Aminis als auch Nika Shakaramis Familie werden unter Druck gesetzt, die offizielle Version der Führung zu bestätigen. Diese beugen sich aber nicht, wie so viele andere Angehörige. Am 8. Oktober meldet sich der Vater eines anderen getöteten Mädchens in einem Twitter Space – Twitter wird schnell zu einer wichtigen Plattform des iranischen Widerstands – und wendet sich an die anderen anwesenden Oppositionellen, die Stimme tränenerstickt: »Sie hat sich nicht umgebracht. Sie hat sich nicht umgebracht.« Seine Stimme bricht. Dann sagt er: »Danke euch allen, die ihr für uns kämpft. Ich küsse eure Füße.«


Nika Shakarami wird zum Symbol einer ganzen Bewegung junger Menschen, die gegen das iranische Regime aufstehen. Der Oktober wird der Monat der iranischen GenZ – Generation Z, diejenigen, die um die Jahrtausendwende und in den Nullerjahren geboren sind, und die mit digitaler Agilität und progressivem Denken verbunden werden –, die ihren eigenen, kreativen Protest entwickelt: Schülerinnen, die mit offenem Haar nebeneinander stehen und einem Bild des Revolutionsführers Ali Khamenei den Mittelfinger entgegenstrecken; junge Mädchen, 14-, 15-jährig, ihre langen Haare zeigend, Hand in Hand, die auf die Tafel im Klassenzimmer schauen, auf die sie geschrieben haben: Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern, eine Liedzeile aus dem inzwischen berühmt gewordenen Lied Baraye von Shervin Hajipour. Ein Video, das besonders weit verbreitet wird, zeigt eine große Gruppe Schülerinnen, die den obligatorischen Hijab abgelegt haben, auf dem Schulhof: Sie schreien, im Takt, immer wieder »bisharaf«, »Ehrloser«, man sieht den Schuldirektor, der keine Wahl hat, vor ihnen fliehen muss. Sie verjagen ihn. Für Jina Mahsa Amini und für Frau, Leben, Freiheit.


Am 8. Oktober gibt es eine nie dagewesene Aktion der Solidarität mit der Jugend Irans: Das iranische Staatsfernsehen wird gehackt. Sah man gerade noch den Revolutionsführer Ali Khamenei mit anderen Klerikern und Offizieren auf dem Bildschirm, so wird die Übertragung plötzlich unterbrochen, zu sehen ist stattdessen ein Foto von Khamenei. Darunter die Worte: »Das Blut unserer Jugend klebt an euren Händen« und, an die Menschen des Iran gerichtet, »Schließt euch uns an! Steht auf!«. Darunter Bilder getöteter Frauen wie Jina Mahsa Amini und Nika Shakarami.


Was den Widerstand der Jugend so besonders macht: Sie sind in diese Islamische Republik hineingeboren worden, sie kennen nichts anderes. Der Staat hat versucht, sie zu indoktrinieren, sie Gehorsam und Angst zu lehren, ihnen den Traum eines freien Lebens auszutreiben – doch er ist gescheitert: Diese jungen Menschen wissen ganz genau, was Freiheit ist. Und sie wissen, wer ihnen den Weg zur Freiheit versperrt. Am 10.Oktober publiziert die Nachrichtenagentur Reuters einen Bericht mit dem Zitat eines 17-jährigen iranischen Protestierenden: »Hey Welt, höre mich: Ich will eine Revolution. Ich will frei leben und ich bin bereit, dafür zu sterben. Anstatt jede Minute unter der Unterdrückung dieses Regimes zu sterben, bevorzuge ich es, durch die Kugeln der Sicherheitskräfte im Protest für die Freiheit zu sterben.«


Am 13.Oktober veröffentlicht Amnesty International einen Bericht über das Vorgehen der bewaffneten Kräfte gegen Minderjährige und Kinder. Bis Mitte Oktober hat das Regime bereits 23 Kinder getötet; Amnesty rechnet mit einer höheren Zahl unbestätigter Fälle. Es sind Polizisten und die berüchtigten Basij-Milizen, die die Proteste niederschlagen und die Menschen auf den Straßen des Landes töten. Sie gehen mit gnadenloser Härte auch gegen Kinder vor. Zakaria Khial, er war 16 Jahre alt: Zakaria wird in Piranshahr aus einer Entfernung von zwei Metern erschossen; während er verblutet, schlagen ihn die Regimekräfte so lange weiter, bis sie ihm Beine und Hände brechen. Mohammad Reza Sarvari war 14, er war afghanischer Abstammung: Ihm wird von hinten in den Kopf geschossen, als er versucht, vor den Regimeschergen zu fliehen. Siavash Mahmoudi war 16: Er wird in Teheran getötet. Nach seinem Tod kursiert ein Video seiner Mutter, in dem sie ein Bild von ihm hochhält und sagt: »Sie haben ihm in seinen Kopf geschossen. Ich bin stolz, die Mutter von Siavash Mahmoudi zu sein. Ich habe vor niemandem Angst. Sie [die Behörden] sagen mir, ich soll schweigen, aber ich werde nicht still sein.«


Die Menschen im Iran bleiben nicht still. Die Proteste nehmen im Oktober weiter zu, trotz der massiven Gewalt durch den Staat, in allen Provinzen, in allen Ecken und Enden des Landes. Es wird nicht nur demonstriert, es wird auch gestreikt: Generalstreik in Kurdistan, Ölarbeiter streiken, Lehrer, Händler und Studierende im ganzen Land. Es bilden sich zunehmend auch Formen des zivilen, des kreativen Widerstands. So legen immer mehr Frauen das Kopftuch ab – Frauen, die ohne den obligatorischen Hijab durch die Straßen gehen, werden zur Normalität. Ein Oppositioneller aus Teheran erzählt Mitte Oktober in einer Exil-Radiosendung, dass er morgens auf seinem Weg zur Arbeit 35 bis 40 Frauen sehe, die ohne Schleier unterwegs seien. Frauen, die ihren Hijab öffentlich ablegen, riskieren viel: Verstöße gegen die Zwangsverschleierung können im Iran mit Haft, Peitschenhieben und Misshandlung bestraft werden – oder mit dem Tod, wie im Fall von Jina Mahsa Amini.


Die Universitäten des Landes werden zu Zentren des Widerstands. Es gibt Massenproteste von Studierenden in Karaj, Isfahan, Arak, in verschiedenen Städten Kurdistans, Shiraz, Ahvaz, Täbris, Mashhad, Kerman, Yazd, Babol und an weiteren Orten. Auf Twitter, Telegram und Instagram verbreiten sich außerdem Videos unterschiedlicher Protestformen: In Teheran malen Studierende ihre Hände mit roter Farbe an und strecken ihre »blutverschmierten« Hände gemeinschaftlich in die Höhe. Ebenfalls in Teheran, an der Universität der Künste, stellen sich Studierende so auf, dass sie das Wort »Blut« (khun auf Farsi) formen, und rufen dabei: »Frau, Leben, Freiheit!« Beliebt wird der Protest in der Uni-Mensa: Männer und Frauen dürfen in der Mensa nicht zusammensitzen, die Speiseräume sind oft durch eine Wand getrennt. An vielen Universitäten des Landes setzen sich Studierende aller Geschlechter im Zeichen des Protests dennoch zusammen in die Mensa. Solche Aktionen werden von zahlreichen Berichten über willkürliche Verhaftungen Studierender und die Ausübung massiver Gewalt an Universitäten begleitet.


Ein weiteres Video aus den Sozialen Netzwerken zeigt weibliche und männliche Kunststudierende der Uni Teheran, die sich an den Händen halten, im Takt auf der Stelle treten und das alte Lied »Ey Iran« aus dem Jahr 1941 singen – das ist verboten, weil das Lied eine Erinnerung an die persische Geschichte ist, die die islamistische Führung konsequent auslöschen will. Aber auch unabhängig von dem Lied wäre diese Aktion verboten: Frauen dürfen in der Islamischen Republik nicht öffentlich singen noch tanzen. Also tun sie in dieser Protestbewegung genau das: Sie tanzen in der U-Bahn, auf den Straßen, bei den Protesten. Sie singen Protestlieder, derer in dieser Revolution – wie Menschen im Iran die Proteste bald nennen – viele neue geschrieben werden. Das wohl bekannteste ist das bereits erwähnte Baraye; der Musiker Shervin Hajipour hat die Melodie dazu komponiert. Den Text hat er aus Tweets zusammengesetzt, in denen Menschen aufgeschrieben haben, warum sie protestieren. Baraye ist persisch und bedeutet »für« oder »wegen«. So heißt es im Lied unter anderem, dass die Menschen für die afghanischen Kinder protestieren, die im Iran systematischer Unterdrückung ausgesetzt sind; sie protestieren wegen der Umweltzerstörung; sie protestieren für die Studierenden und ihre Zukunft; sie protestieren für Zan, Zendegi, Azadi.


Shervin Hajipour wird für das Verfassen dieses Songs festgenommen. Mit einer erzwungenen Entschuldigung und auf Kaution wird er Anfang Oktober freigelassen. Immer mehr Prominente aus Film, Kunst und Sport schließen sich im Oktober den Protesten an. So wie auch die Kletterin Elnaz Rekabi, die bei einer Sportmeisterschaft in Seoul ohne den verpflichtenden Hijab antritt. Das Video, wie sie sich mit ihrem schwarzen Zopf an der Kletterwand entlanghangelt, geht um die Welt. Auch Elnaz Rekabi wird schnell zum Schweigen gebracht. Sie wird vorzeitig nach Teheran zurückgeflogen, wo viele Menschen sie mit Jubelrufen am Flughafen erwarten. Elnaz Rekabi muss eine erzwungene Entschuldigung abgeben: Sie habe ihr Kopftuch in der Eile vergessen aufzuziehen, wie sie in einem Instagram-Post schreibt, der höchstwahrscheinlich nicht von ihr selbst verfasst wurde. Erzwungene Entschuldigungen sind ein bewährtes Mittel der iranischen Machthabenden. Das hält aber weitere Sportler nicht davon ab, es Elnaz Rekabi gleichzutun. Der zivile Widerstand im Sport wird zu einer wichtigen Protestform.



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