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„Toxische Religiosität und ein falsches Männlichkeitsverständnis“

Wie beobachten IranerInnen oder Exil-IranerInnen und Iran-ExpertInnen die Proteste in Iran? Mit einem Fragebogen holen wir Stimmen ein. Diesmal: der Jurist Bardia Razavi.



Die Proteste in Iran halten seit Wochen an. Mit welchen Gefühlen oder Gedanken beobachten Sie diese aktuell?


Die aktuelle iranische Revolution nimmt mein gesamtes Privatleben seit gut drei Monaten in Beschlag. Ich fühle mich dem Wohl und Wehe meines zweiten Heimatlandes Iran sehr verpflichtet und ich habe beschlossen, im Gegensatz zu leider vielen anderen Deutsch-Iranern nicht den Mund zu halten. Ich bin ein politischer Mensch, wenn es um die Wahrung von Menschenrechten geht.


Haben Sie direkte Kontakte zur Bevölkerung in Iran? Falls ja: Was hören oder lesen Sie dort? Ich habe weiterhin Kontakte in den Iran, die sich aus guten Gründen und zum Schutze ihrer eigenen Sicherheit bedeckt halten.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein? In welcher Phase sind die Proteste? Die Revolution ist in vollem Gange. Jede Revolution - so übrigens auch die von 1978/1979 - verläuft in Wellen. Phasen der Stagnation und des Aufruhrs wechseln sich ab. Was eine Revolution von einem Protest indes unterscheidet, ist der Wille zur Umwälzung, während ein Protest den schlichten Widerwillen zu einer bestimmten Regierungspolitik zum Ausdruck bringt.


Wer die Entwicklungen im Iran seit September 2022 beobachtet hat, kann daher nicht ernsthaft von einem Protest reden. Die Iranerinnen und Iraner haben sich zur Umwälzung entschieden und die Umsetzung eines solchen Willens erfordert Zeit. Die Emanzipation von der Islamischen Republik hat gerade erst begonnen. Dass diese den Trennungswillen des iranischen Volkes mit Gewalt abzuwehren versucht, verwundert leider nicht. Aber wie im übrigen Leben - wenn der Wille zur Trennung da ist, hat die Beziehung keine Chance mehr. Die Iranerinnen und Iraner haben mit der Islamischen Republik abgeschlossen und so wird es auch kommen.


Anders als viele andere große Proteste und Revolutionen geht diese auf den Aufstand von Frauen zurück. Was macht die feministische Revolution so besonders? Die iranische Revolution der Jahre 2022 und folgende kann nur eine im Kern frauenrechtliche sein. Denn die tragende Säule der Islamischen Republik ist die vollständige Entmündigung der Frau. Der seit 1979 bestehende Kopftuchzwang symbolisiert dieses Unrecht nach außen, ist indes nur die Spitze des Eisbergs. Die iranischen Männer haben großes Unrecht geschehen lassen, als sie bei der Unterdrückung ihrer Mütter, Schwestern, Freundinnen und Mitbürgerinnen im Jahr 1979 weitgehend tatenlos zugeschaut haben. In einem freien Iran werden sich die Menschen der damaligen Generation wechselseitig viel zu verzeihen haben. Toxische Religiosität und ein falsches Männlichkeitsverständnis haben großes Unheil über die iranische Gesellschaft gebracht.


Hierzulande – in Deutschland als auch anderen westlichen Ländern – wird das Thema in den Medien überlagert von anderen Themen wie dem Ukraine-Krieg. Was muss sich tun, um dies zu ändern? Die Themen Ukraine und Iran sollten zusammen gedacht werden. Es sind unter anderem die Drohnen der Islamischen Republik, durch die Menschen in der Ukraine getötet werden. In beiden Ländern kämpfen Menschen für Freiheit und Selbstbestimmung. Während der Aggressor im Fall der Ukraine von außen kommt, sitzt er im Iran in den Behördenstuben des Landes.


Was ist Ihre Prognose: In welche Richtung wird sich Iran bzw wird sich der Aufstand in den kommenden Monaten entwickeln? Wir werden Zeuginnen und Zeugen einer grundlegenden Umwälzung der iranischen Gesellschaft und des damit bis dato einhergehenden Staatswesens, das nach außen und innen keine Legitimität mehr besitzt. Diktaturen können einzelne Aufstände niederschlagen, aber die Willensbildung der Menschen nicht beeinflussen. Emanzipation beginnt damit, sich eine Zukunft ohne Leid vorzustellen. Die Vorstellung von einem besseren Leben bewirkt Veränderung im Handeln. Die Menschen haben begonnen, sich eine Zukunft ohne die Islamische Republik vorzustellen. So wird es kommen.


Als Sohn iranischer Einwanderer ist Bardia Razavi in Teheran geboren und in Hamburg aufgewachsen. Er ist Jurist, 39 Jahre alt und wohnt mit seinem Freund in Hamburg.

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