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Amnesty-Experte: „Niemand wird verschont, nicht einmal Kinder“

Dieter Karg ist der Iran-Experte bei Amnesty International in Deutschland. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich mit dem Land, aus dem seine Ehefrau kommt. Im Interview äußert sich Karg zu den Perspektiven der Revolution, gibt einen Einblick in die Arbeit von Amnesty, schildert die Repressionen des Regimes gegen Kinder – und regt ein internationales Strafverfahren gegen Präsident Raisi an.



Dieter Karg von Amnesty International in Deutschland
Dieter Karg (Foto: privat)

Sie beschäftigen sich seit über 30 Jahren mit dem Iran, wie sind Sie dazu gekommen? Haben Sie auch familiäre Verbindungen dorthin?

Es hat angefangen damit, dass jemand gesucht wurde, der für Amnesty International in Deutschland Gutachten in Asylverfahren iranischer Geflüchteter erstellt. Etwa drei Jahre später wollte es der Zufall, dass ich meine Frau, eine Iranerin, kennengelernte. Sie hat auch noch Angehörige im Iran.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein: In welcher Phase befindet sich die revolutionäre Bewegung aktuell?

Derzeit ist der offene Protest auf der Straße seltener geworden. Die brutale Repression hat also teilweise funktioniert. Der Widerstand äußert sich z.B. verstärkt in Parolen an Wänden oder demonstrativer Missachtung des Kopftuchzwangs. Es gibt aber vor allem in den Gebieten von ethnischen Minderheiten, wie z.B. in Kurdistan oder Sistan und Belutschistan, noch Demonstrationen.

Haben Sie über Amnesty aktuell Kontakt in den Iran: Was hören Sie dort? Die meisten Kontakte laufen über das Iran-Rechercheteam in London. Dort erreichen uns erschütternde Berichte über die Brutalität der Sicherheitskräfte, Verschwindenlassen von Menschen, Folter und Bedrohungen.

Wie sieht die Arbeit von Amnesty im Iran konkret aus?

In unserem Rechercheteam arbeiten mehrere Mitarbeiter*innen iranischer Abstammung. Sie führen Gespräche per Telefon oder Internet mit Betroffenen, Angehörigen, Anwält*innen und Augenzeug*innen. Uns erreichen auch Videos oder schriftliche Mitteilungen über soziale Medien. Diese Berichte und Belege werden miteinander verglichen und überprüft. Wir haben auch ein Kontakttelefon eingerichtet, über den Menschen unter Zusicherung von Vertraulichkeit und Anonymität Informationen übermitteln können. Im Iran vor Ort dürfen wir nicht tätig sein.

Die jüngsten Amnesty-Dokumentationen zeigen, dass auch vermehrt Kinder Ziel und Opfer des Regimes sind. Amnesty geht von tausenden inhaftierten Kindern aus, die scheinbar teilweise wieder freigelassen wurden. Sie sprechen dabei von einer Strategie des Regimes. Mit welchem Ziel? Das Ziel ist, den Menschen zu zeigen, dass niemand verschont wird, nicht einmal Kinder. Dadurch soll massiv Angst erzeugt werden, so dass sich niemand mehr traut, öffentlich Unmut zu bekunden. Eltern sollen also ihre Kinder davon abhalten, bei Protesten auf die Straße zu gehen. Den inhaftierten Kindern und Jugendlichen wird gedroht, dass ihnen oder ihren Familien weitere schlimme Bestrafung droht, wenn sie über ihre Erfahrungen berichten. So sollen auch ihre Angehörigen zum Schweigen gebracht werden, damit über die massive Gewalt nichts an die Öffentlichkeit dringt.

Denken Sie, dass diese zusätzlichen körperlichen Gewalttaten und physischen Belastungen für die Kinder und deren Familien am Ende nicht zu noch mehr Wut des iranischen Volks führen werden?

Das ist gut möglich. Und dadurch, dass uns Informationen zukommen, sehen wir ja, dass sich viele nicht komplett einschüchtern lassen, auch wenn die Wut sich nicht immer offen zeigt. Als die Vergiftungen an Mädchenschulen und die lange Untätigkeit staatlicher Stellen in dieser Sache bekannt wurden, kam es aber sogleich wieder zu vielen öffentlichen Protesten. Es staut sich also immer mehr Unmut an.

Sie fordern alle Staaten auf universelle Gerichtsbarkeit auszuüben. Was wären die konkreten Folgen? Es könnte dazu führen, dass Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Verantwortlichen der vielen Menschenrechtsverletzungen in allen Ländern eröffnet werden könnten und die Täter*innen bei einem Aufenthalt im Ausland inhaftiert werden könnten. Dass es dazu wirklich kommt, ist allerdings wenig wahrscheinlich, da die Betreffenden wohl kaum in diese Länder reisen würden, in denen ihnen das droht. Es machen sicher auch nicht alle Staaten dabei mit. Es würde so aber ein Zeichen gesetzt, dass solche Verbrechen nicht straffrei bleiben dürfen und die Weltgemeinschaft nicht einfach zuschaut, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Wie ließe sich das umsetzen und wie hoch stehen die Chancen dazu?

Solche Verfahren können über das Weltrechtsprinzip überall stattfinden – in Koblenz wurden so beispielsweise zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter aus Syrien verurteilt. Ein solches Verfahren könnte auch über den internationalen Strafgerichtshof laufen. Dieser scheint nun auch etwas entschlossener zu handeln, wie der Haftbefehl gegen Putin zeigt. Gegen den derzeitigen iranischen Präsidenten Raisi könnte man ein ähnliches Verfahren anstrengen, nicht nur wegen der blutigen Niederschlagung der gegenwärtigen Proteste, sondern auch wegen seiner früheren Mitwirkung an den Massenhinrichtungen in iranischen Gefängnissen 1988, bei denen Schätzungen zufolge mindestens 5.000 Menschen umgebracht wurden.

Es gibt starke politische Verwerfungen hinsichtlich der Listung der Revolutionsgarden und der Perspektiven des Atomabkommens. Wie ist Ihre Haltung zu diesen beiden Punkten? Amnesty fordert, dass die Verantwortlichen der Revolutionsgarden, die die Gewalt angeordnet haben, und diejenigen, die unverhältnismäßige Gewalt gegen friedlich Protestierende ausgeübt haben, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Zum Atomabkommen äußert sich Amnesty nicht. Wir haben damals, als es noch eine realistische Perspektive der Umsetzung gab, aber immer gefordert, in die Verhandlungen auch menschenrechtliche Forderungen einzubringen.

Wie wird sich die Situation im Iran in den kommenden Monaten entwickeln, was ist Ihre Prognose?

Das ist sehr schwer zu sagen. Man sieht, dass die Regierung in der Bevölkerung auf immer größere Ablehnung stößt und sich nur mit Gewalt an der Macht halten kann. In den letzten Jahren entzündeten sich an verschiedensten Anlässen und in immer kürzeren Abständen spontane Proteste. Das ist auch anlässlich der Vergiftungen an Mädchenschulen wieder geschehen. Das wird wohl weiter geschehen und der Staat wird, wie bisher, mit ungehemmter Gewalt darauf antworten. Bis jetzt zeichnet sich leider keine größere Spaltung im Machtapparat ab, die zu einer Abmilderung oder demokratischen Entwicklung führen könnte.


Wie sich die Situation im Iran entwickeln wird, hängt aber eben auch davon ab, wie die Weltgemeinschaft reagiert. Eine Rückkehr zum „business as usual“ hätte sicher fatale Auswirkungen. Deshalb ist es so wichtig, dass der internationale Druck und die Aufmerksamkeit für den Kampf für Freiheit und Menschenrechte weiter anhalten.


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